Annes Beerdigung war das schlimmste Ereignis in meinem gesamten, bisherigen Leben.
Auch Stunden danach saß ich noch wie betäubt in meinem alten Zimmer im St. Hedwig, starrte die dunkelblaue Bettwäsche an, die Harry damals so wohlüberlegt ausgesucht hatte, und wünschte mir, einfach nur weinen zu können, doch es ging nicht. Nicht mehr. In den letzten Tagen hatte mein Körper schon genug Tränen vergossen, um nun noch Salz für ein paar weitere aufbringen zu können.
Die darauffolgenden Wochen vergingen ebenfalls wie in Trance. Einerseits unfassbar langsam und zäh, aber andererseits flossen sie nur so dahin, unaufhaltsam und ohne Möglichkeit, auf Pause zu drücken, um sich zu sammeln.
Inzwischen klopfte Weihnachten mit dem ersten Advent an die Tür, aber noch nie hatte sich das Fest der Liebe so lieblos angefühlt.
Harry war so schweigsam wie noch nie. Er hatte seinen Job als Pfleger nach seiner Genesung mehr oder weniger nahtlos wiederaufgenommen, trug sich für alle Überstunden ein, die er finden konnte, und wenn er gerade nicht arbeitete, ließ er sich von Louis im Umgang mit Schusswaffen trainieren oder stürzte sich auf Quinns Forschung.
Oder Quinns Forschung stürzte sich auf ihn? Schwer zu sagen.
Ich war mir ziemlich sicher, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte.
Jedenfalls schien Harry nun genauso versessen darauf zu sein, einen Reparaturmechanismus für die Mutation zu finden, wie Quinn es schon seit Jahren war. Ich ahnte, welcher traurige Grund dahintersteckte.
Er wollte nicht, dass seine Mutter umsonst ihr Leben gelassen hatte.
Scheinbar hatte Ken ganz am Ende des für ihn eigentlich schon verlorenen Kampfes noch einen allerletzten Schuss abgegeben, der Harry ohne jeden Zweifel tödlich getroffen hätte – und Anne hatte die Kugel mit ihrem eigenen Körper abgefangen.
Sie war noch während des Transports ins Klinikum an Organversagen gestorben.
Harrys Schuldgefühle waren unerträglich. Ich wusste das, weil sie wieder und wieder auf mich übergriffen, an manchen Tagen stärker, an anderen schwächer. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis Harry darüber hinwegkam und sein Leben weiterlebte, ohne durchgehend an diesem einen Moment zu hängen, aber ich war froh, ihm beistehen zu können. Ich teilte sein Leid immerhin. Im wahrsten Sinne des Wortes.
„Hey, du."
Zayns sanfte Stimme riss mich aus meinem pessimistischen Strudel, und trotz allem musste ich lächeln, als er von hinten die Arme um mich schlang und mir einen Kuss an die Schläfe drückte. „Hey."
„Na?" Er spähte auf den Laptop, der aufgeklappt vor mir stand und ein Skript präsentierte. „Kommst du voran?"
Ich seufzte, lehnte mich an ihn und schloss für einen Moment die Augen. „Nein. Kein bisschen. Um ehrlich zu sein, hatte ich mir Uni im Homeoffice allgemein einfacher vorgestellt."
Zayn nickte verständnisvoll. „Aber sieh es positiv. Aktuell laufen so viele Umbrüche gleichzeitig. Die OOA wird grundlegend umstrukturiert, die Rebellen lassen sich unter Mauras Leitung auf eine Kooperation mit dem St. Hedwig ein ... vielleicht schaffen sie und Bernard es, die Fronten so weit miteinander zu vereinen, dass du für den Master wieder persönlich zur Uni kannst. Ohne dabei von radikalen OOA-Mitgliedern abgegriffen zu werden."
Mein Nicken fiel nur sehr zögerlich aus. „Klar. Aber ... weißt du, selbst wenn Quinn es schafft, radikale Mutationsgegner aus den Reihen der OOA zu verbannen, laufen sie ja immer noch frei herum. Und wen, glaubst du, knöpfen die sich als allererstes vor? Sie warten doch nur darauf, dass meine Mutter oder ich ohne Begleitung auf die Straße gehen." Ich biss mir auf die Unterlippe. „Ich habe einfach Angst, Zayn. Diese Aggros können im Prinzip machen, was sie wollen."
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Oblivious (Ziall)
FanfictionSeit er denken kann, hört Niall Stimmen in seinem Kopf. Er leidet unter Schizophrenie. Oder: Das ist zumindest, was man ihn glauben lässt. Darüber, dass seine Symptomatik von der Durchschnittsnorm abweicht, macht er sich schon längst keine Gedanke...