Kapitel VII

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Die Wiederholung der 54. Hungerspiele folgt natürlich nicht meinem Vater, sondern Taylin Joe aus Distrikt sieben der Siegerin aus dem Jahr. Wir sehen kurz, wie ihr Name bei der Ernte vorgelesen wird. Sie ist ein sechzehnjähriges Mädchen hat braune Haare und graue Augen, nicht besonders stark, nicht besonders groß, unscheinbar, aber hübsch. Sie weint nicht, gibt sich tapfer. Dann wechselt es sofort auf die Einstellung bei der Wagenparade. Ich stoppe bei der Einstellung auf Distrikt vier. Ich habe leider nur eine verwackelt Stelle erwischt. Das männliche Tribut hat beinahe schwarze Haare und die Tribute tragen ein mit Schuppen besetzten, schimmernden Anzug. Nicht das beste Jahr für Kostüme. Ich  versuche eine bessere Einstellung hin zu bekommen, aber die Zeitspanne, in der man ihn und seine Distrikt Partnerin sieht, ist viel zu klein. Ich bekomme kein richtiges Bild von meinem Vater. Nur ein verschwommener blauer Fleck mit dunklen Haaren.
Es folgt die Trainingsbewertung zuerst die von Taylin in Großaufnahme. Sie hat eine sieben erreicht, eine Bewertung, auf die man aufbauen kann. Danach blenden sie alle Wertungen ein. Ich drücke Stopp und suche nach seinem Namen. Das muss er sein. Gigi Oliver, das muss er sein. „Gigi Oliver“, wispere ich in den leeren Raum und schließe kurz die Augen. Er hat eine Wertung von neun bekommen. Eine sehr gute Bewertung. Hat er sich gefreut? Hatte er Angst? Ich versuche es mir vorzustellen, doch ohne Gesicht ist das schwierig.
Ich bin froh, dass sie uns von einigen Tributen einen Ausschnitt vom Interview zeigen. Ich nage konzentriert auf meiner Lippe, während ich meinem Vater zuschaue. Als er die Bühne betritt, drücke ich Stopp. Nicht nur, weil ich ihn sehen möchte, auch weil ich kurz daran zweifle, ob ich das hier überhaupt sehen möchte. Was, wenn er eins dieser grausigen Tribute ist, von denen es immer wieder Gerüchte gibt? Was, wenn er ein kaltblütiger Mörder ist? Was, wenn es mir einfach nicht gefällt, was ich sehe? Aber es ist das einzige, das ich über ihn weiß und die einzige Möglichkeit, ihn kennen zu lernen.
Er sieht groß aus neben der jungen Version von Caesar Flickerman. Seine Haare sind, wie ich bereits auf dem Wagen gesehen habe, schwarz, ganz anders als meine, aber er hat Sommersprossen, so wie ich. Und die selben grauen Augen. Ich schlucke. Es ist irgendetwas an ihm, dass ich mich sofort mit ihm spiegeln muss und mich in ihn hereinversetze.
Ich stelle auf Play und er setzt sich neben Caesar auf einen der Sessel.
„Guten Abend, Gigi, wie schön dich heute Abend hier zu haben. Du siehst gut aus“, begrüßt Ceaser ihn.
„Danke, Caesar, es ist wirklich fantastisch hier zu sein.“ Er setzt ein charmantes Lächeln auf und ein Grübchen bildet sich auf seiner Wange. Meine Hand fährt zu meiner hoch. Habe ich auch ein Grübchen, wenn ich lächle?
Ein Cut wurde gesetzt, das Interview gekürzt. „Sag mal Gigi, so ein gutaussehender junger Mann, muss doch zuhause von unzähligen Mädchen umschwärmt werden, oder?“
Er fährt sich rasch durch das Haar und schaut dann kurz in die Kamera.
„Vielleicht, ja, aber es gibt dort nur eine von Bedeutung“, sagt er leise. „Die klügste, schönste und wichtigste.“ Das Publikum seufzt auf, einige fassen sich sogar berührt ans Herz.
„Deine Freundin oder weiß die Gute gar nichts von ihrem Glück?“
„Meine Verlobte“, berichtigt er. „Wenn ich nach Hause komme, werden wir heiraten.“
„Und ob du das wirst und wir sind schon ganz heiß darauf deine Verlobte kennenzulernen, also unterschlag uns das nicht!“ Caesar grinst breit. „Gigi Oliver, meine Damen und Herren!“
Ich zucke zusammen, als die Tür geöffnet wird, aber es ist nur Finnick. „Geh lieber auch nochmal ins Bett. Du kannst morgen mit den Vorbereitungen weitermachen.“
Ich schüttle den Kopf und stoppe das Interview. „Nein, das ist es nicht.“ Ich atme tief durch und sage dann mit zittriger Stimme: „Offenbar ist mein leiblicher Vater in den Hungerspielen gestorben und meine Tante hat heute morgen für den richtigen Moment gehalten, es mir zu erzählen. Jetzt versuche ich… ihn irgendwie kennen zu lernen. Schätze ich.“ Um unbeteiligt zu tun, zucke ich mit den Schultern.
„Verstehe.“ Er setzt sich neben mich. „Welche Spiele waren es?“
„Die 54.“, murmle ich.
„Ich erinnere mich, wir haben es in der Akademie für Naturkatastrophen in Arenen durchgenommen. Machen Sie das nicht mehr?“
„Doch, aber bei mir waren es dann schon die 72. Hungerspiele. Die von Annie. Wie geht’s ihr?“, frage ich besorgt. Es war toll, dass sie sich um mich gekümmert hat, obwohl sie selbst so zu kämpfen hat.
„Gerade oder prinzipiell?“ Finnick seufzt. „Sie schläft jetzt, sie schläft in letzter Zeit viel, aber das ist besser als die Zeit, in der sie gar nicht schlafen konnte.“
„Versteht ihr beide euch gut?“
„Ja, seit ich ihr Mentor war, haben wir eine besondere Verbindung. Ich habe sie da irgendwie versucht rauszuholen und offenbar hat es geklappt. Ich hoffe, dass wir irgendwann glücklich sein können. In einem kleinen Haus in vier, ohne das Kapitol“, erzählt er mir. Finnick rauft sich die Haare. Er ist so anders, als das Bild, das das Kapitol von ihm spiegelt. Vermutlich ist es nichts mehr als ein Schutzmantel, den er für die Kameras umlegt.
„Ich dachte immer, du bist gerne im Kapitol? Du bist so oft da.“ Ich runzle die Stirn und drücke eines der Kissen auf der Couch an mich.
„Aber doch nur, weil sie mich zwingen, aber… darüber reden wir, wenn ich dich auch durch die Spiele bringen konnte.“ Er verzieht die Lippen kurz zu einem schmalen Lächeln. „Wollen wir hier weiterschauen oder kommst du mit ins Bett?“
„Ich weiß nicht, ob ich jetzt schlafen könnte. Der Tag fühlt sich wie ein ganzes Leben an. Ich möchte noch die Interviews zu Ende schauen.“
Ich starte die Aufnahme wieder und schaue einigen anderen Tributen bei ihrem Interview zu. Ich versuche daraus etwas Sinnvolles für mein eigenes zu ziehen, aber mein Vater war doch einer der besseren. Taylin zeigen sie natürlich in voller Länge. Sie scherzt über das Bäumefällen zuhause, wie sie schon mit vier eine Axt gehalten hat, die so groß war wie sie, wie sie immer auf die höchsten Bäume geklettert ist. Sie erzählt von dem Kieferngeruch, den sie vermisst, von dem ganzen Holz und von ihrer Familie, dass sie sich wünscht ihren kleinen Bruder und ihre Cousinen wieder zu sehen. Als das Interview zu Ende ist, schalte ich schnell den Fernseher aus, bevor die Spiele starten.
„Wie ist sie so?“, frage ich.
„Wer?“, fragt Finnick unschuldig.
„Taylin, du kennst sie doch bestimmt. Hat sie ihre Familie wiedergesehen?“
Er verzieht das Gesicht gequält. „Ja, ich glaube, ihrer Familie geht es gut. Sie hat jetzt sogar eine eigene und scheint zufrieden zu sein, jedenfalls für eine Siegerin. Im Kapitol ist sie meistens betrunken. Sie ist älter als ich, ich kenne sie nicht besonders gut. Aber sie ist nett. Jetzt jedenfalls. Du solltest jetzt aber wirklich ins Bett gehen.“ Er steht auf und hält mir die Tür auf.
Ich lege das Kissen und meine Decke ordentlich zurück und gehe dann aus der Tür heraus. „Gute Nacht, Finnick und vielen Dank. Es beruhigt mich, einen zuverlässigen Mentor zu haben, wie dich. Das macht Hoffnung.“ Ich nicke ihm zu und gehe dann in mein Zimmer.

Die Tribute von Panem - Eisige WellenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt