21. Oktober 2022: Doppelknoten auf drei Uhr

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Hongjoong betrat den Raum, die Bodendielen knarzten unter seinen Stiefeln und die Messer an seinem Gürtel schlenkerten an ihren Lederriemen hin und her. Bei jedem zweiten seiner Schritte stießen ihre Klingen aneinander, dass es unheilvoll klirrte.

Wie ist das möglich? Krampfhaft suchte ich die Antwort, aber die Gedanken rannen durch das Getriebe meiner Gehirnwindungen hindurch, wie bis eben noch der feine Goldstaub durch die Sanduhr – viel zu schnell; weder bekam ich sie zu fassen, noch brachten sie die Zahnräder in meinem Kopf in Gang; sie waren zu pulverig, nicht konsistent genug. Die Informationen, die wir gefunden hatten, waren nicht greifbar. Zumindest nicht für mich. Keine Chance.

Schöner Mist. Was jetzt?

Hongjoong war hier und erwartete unsere Lösung. In seinen dunklen Augen glühten kleine Sprenkel so rot, wie die Glut im Kamin. Er brannte auf Antworten. Waren seine Haare nun deshalb leuchtend rot gefärbt? Rot wie die untergehende Sonne?

Ach, unwichtig.

In dem Bemühen, mich nicht von ihm ablenken zu lassen, senkte ich meinen Blick und begegnete dabei den geradlinigen Zügen Dampiers. Das Buch mit seinem Porträt lag aufgeschlagen auf dem Boden.

Meine Knie wabbelten, als wären die Gelenke aus Pudding. Mein ganzer Körper schwankte, als gäben ihm die Knochen nicht genug Halt. Das Astrolabium hing wie ein tonnenschwerer Anker an dem Lederband unter meinem Pulli. Unsinnigerweise hoffte ich, es würde mir nochmal ein Zeichen geben, aber vor Hongjoong wagte ich nicht, es hervorzuholen. Doch wie sollte es mir helfen, wenn ich den Zeiger nicht sah?

Er hatte sich gedreht. Vorhin. Ich hatte es mir nicht eingebildet, dessen war ich sicher. Der Zeiger hatte genau auf das Buch gezeigt. Die Ähnlichkeit der Namen war frappierend und Bea hatte in einer Sache Recht: Meine Nase hatte mich immer gestört, da ich sie als zu lang empfand, doch im Gesicht des Herrn auf dem Bild prangte der gleiche Zinken, wie bei mir, Mutter und Opa.

Hongjoong folgte meinem Blick. „Und? Wollt ihr mir nicht mitteilen, auf was oder wen ihr bei der Suche gestoßen seid? Oder ist es euch lieber, wenn wir es hier und jetzt beenden?" Er schloss die Lücke und stand jetzt so dicht vor mir, dass ich geradewegs in seinen viel zu offenen V-Ausschnitt starrte. Meine Beine wurden noch weicher, ein Zurückweichen war unmöglich, wenn ich nicht auf dem Hintern landen wollte.

Ich schwitzte. Eine falsche Äußerung bedeutete unseren Untergang.

„Nun? Ich bin ganz Ohr. Was ist deine Antwort? Weißt du nun, wer du bist?" Er beugte sich vor, flüstere mir die letzte Frage wie ein Windhauch in mein Ohr. Eine seiner Haarsträhnen streifte meinen Hals und erzeugte ein Prickeln entlang meiner Wirbelsäule.

Es war totenstill im Raum. Alle schienen die Luft anzuhalten und auf meine Antwort zu warten.

Nervös biss ich mir auf die Lippe. Wir waren auf eine Spur gestoßen, nur fehlte die Zeit, sie zu überdenken. Es gab noch so vieles, das keinen Sinn ergab. Lagen wir mit Dampier wirklich richtig oder hatten wir uns da in etwas verrannt, das zu gut klang, um wahr zu sein?

Oder hatte uns der Piratenkönig mit dem gut leserlichen Buch im blauen Samteinband und dem Porträt Dampiers gar eine Falle gestellt? Wollte er uns mit Absicht auf eine falsche Fährte locken?

Meine Ohren glühten und mein Herz hämmerte wild gegen meine Rippen. In Hongjoongs Anwesenheit konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Das Lederband des Astrolabiums schnitt mir in die Haut. Und in diesem Moment wurde mir alles zu viel: Seine Nähe, in der mich der Geruch des Ozeans umwehte, das Gewicht des Anhängers um meinen Hals, die Fragen, die mir endlos durch den Kopf rannen, und am meisten die Angst vor den Folgen einer falschen Antwort.

Ich schloss die Augen und auf den Lidern erschien, wie auf einer Leinwand im Kino, der sich drehende Zeiger meines Astrolabiums. Schmerzlich wurde mir klar, dass ich diesem Anhänger mehr vertraute als mir selbst. Tränen kämpften sich nach oben, doch ich schluckte sie hinunter.

Der Ruf des Meeres (Ateez, Hongjoong)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt