Frost II

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Sie erinnerte sich daran, wie die Kutsche vorfuhr und in einigen Metern Entfernung zum Stillstand kam.

Ihre Hand schloss sich fester um den Rockzipfel ihrer Mutter, deren Kleid sie halb versteckte. Schon seit einigen Tagen hatte ihre Mutter Späher entsendet, die sie unterrichten sollten, falls der Besucher sich näherte, und seit Wochen hatte sie oft von ihm gesprochen.

Eine Chance, den lang andauernden Krieg mit den Drachen beizulegen und endlich Frieden einkehren zu lassen.

Die Tür der Kutsche öffnete sich und er trat aus. Derjenige, den sie den Dunklen König nannten. Gekleidet war er vollkommen in Weiß und weiß war auch sein Haar. Kälte umhüllte ihn, folgte ihm wie ein Schatten und jeder seiner Schritte hinterließ Frost auf dem Weg, ehe die Sonne die zarten Eiskristalle schmolz.

Er ging auf einen Gehstock gestützt, aber das Humpeln tat seiner Anmut kaum einen Abbruch. Seine Bewegungen selbstsicher, als sei dies Reich sein eigenes.

V erinnerte sich nicht mehr an sein Gesicht, nur daran, dass er jünger gewesen war, als sie erwartet hatte. Ein Mann, auf dessen Schultern ein gesamtes Königreich lag, und doch hatte er noch nicht einmal dreißig Winter erlebt.

Seine Ohren liefen spitz zu und augenblicklich überkam V damals ein Gefühl von Familie. Seines und ihr Volk teilten dieselben Vorfahren. Mit ihm musste es doch wahrhaft leichter sein, zu verhandeln, als mit den Drachen, die jeden einzigen Dunkelelfen ausgelöscht wissen wollten.

Doch die Begegnung mit dem König war Jahre her und was in der Nacht folgte, raubte ihr jede Hoffnung.


»Viera! Schnell, du musst aufwachen!«

Sie hob nur die Decke über den Kopf und drehte sich mit einem Murren auf die andere Seite. Nur noch ein paar Minuten weiterschlafen und danach könnte sie sich damit beschäftigen, womit auch immer ihr Kindermädchen sie zu stören beabsichtigte.

»Viera!« Eine Hand packte ihre Schulter und drehte sie zurück. Jetzt erst schlug sie die Lider auf. Die Panik in den Worten weckten sie.

»Was ist los?«, fragte Viera und rieb sich die Augen. Die Nacht herrschte noch über die Welt und nur schwer konnte sie die Umrisse ihres Zimmers erkennen.

Im Hintergrund ertönten Laute, die sie zunächst nicht einschätzen konnte, doch je weiter sich der Schlaf aus ihren Knochen zurückzog, desto deutlicher wurde es.

Schreie. Hohe schmerzerfüllte Schreie.

»Verstecke dich, sofort!«, wies ihr Kindermädchen sie an, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Es wird alles gut, ganz bestimmt. Du musst nur still bleiben und darfst dich auf keinen Fall finden lassen.«

Schritte auf dem Flur. Schwer und ungleichmäßig.

Das Kindermädchen nahm Viera und schob sie unter das Bett. »Sobald du die Gelegenheit hast, lauf so schnell, du kannst, und schau nicht zurück. Du weißt, wo die Fluchtwege sind.«

Erstickende Geräusche vor der Tür. Viera kroch tiefer unter das Bett, tiefer in die Dunkelheit.

Mit einem lauten Knall flog die Tür aus den Angeln und krachte gegen die Wand auf der anderen Seite des Raumes. Das Holz zersplitterte, Risse zogen sich durch das Gestein.

Viera sah nur die Stiefel des Neuankömmlings. Mit humpelnden Schritten betrat er das Zimmer. Blut tropfte auf die Dielen unter seinen Füßen und sammelte sich in einer kleinen Pfütze.

Ein trockenes Lachen hallte durch den Raum und brachte Vieras Nackenhaare dazu, sich aufzustellen.

»Habt Ihr geglaubt, Ihr könntet mir entkommen?« Rau war die Stimme. Jeder Wohlklang, der sie einst erwärmt hatte, war nun gegen Kälte eingetauscht.

The Tale of Greed and VirtueWo Geschichten leben. Entdecke jetzt