„Hallo Linus!" Genia umarmte ihn. An einem anderen Tag hätte er diese herzliche Umarmung mit Sicherheit mit der gleichen Herzlichkeit erwidert. Aber nicht heute. Dafür war er viel zu sauer und genervt. „Hi, Genia!", kam also nur das Maximum des ihm Möglichen ziemlich neutral aus seinem Mund. Und selbst diese neutrale Stimmlage kostete ihn eine Menge Kraft, denn am liebsten würde er seinen ganzen Frust ablassen. Aber bei Genia......bei Genia würde es sogar einen Teilschuldigen treffen. Schließlich war sie ja auch ein Grund, warum Ina so gut wie gar nicht mehr im Büro aufschlug. Auch wenn er die ganze Zeit Verständnis dafür aufgebracht hatte, dass die beiden sich erst einmal kennenlernen wollten, war das jetzt aufgebraucht. Kennenlernen gut und schön, aber..... „Ich muss dann auch mal. Luca und Espie warten mit Sicherheit schon auf mich." Genia strahlte in glücklich an. „Grüß Luca von mir!", quetschte er sich noch mühsam freundlich heraus, ehe er Inas Mutter hinterherschaute, die zu ihrem Auto lief. Entschlossen öffnete er die Tür und marschierte ins Haus. Er würde jetzt mit Ina reden. So konnte das absolut nicht weitergehen.....
Ina saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und dachte an das Gespräch mit Onkel Robert. Ja, er hatte ihre Mutter wirklich geliebt. Heute war ihr auch klar geworden, warum er nie geheiratet oder eine Freundin gehabt hatte, die er mit zu ihnen gebracht hatte. Er hatte immer auf den Moment gewartet, an dem ihre Mutter feststellte, dass sie den falschen Mann erwischt hatte. Und als es dann so weit war, hatte ihm das Schicksal oder ein idiotischer Autofahrer einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ob Mama ihn wohl auch geliebt hatte und ob es für sie eine gemeinsame Zukunft gegeben hätte? Hätte er dann die Position ihres Vaters in ihrem Leben eingenommen? Mit ihm wäre ihr Leben mit Sicherheit anders abgelaufen? Da hätten nicht nur Leistung und Erfolg im Vordergrund gestanden. Da war sie sich sicher. Hätten er und Mama vielleicht noch ein Kind bekommen? Wären sie alle zusammen eine glückliche Familie gewesen? Hätten die beiden mit ihr zusammen nach Genia gesucht und sie hätte sie schon viel früher kennengelernt? Wäre Genia dann vielleicht sogar das Schicksal auf der Straße und als Prostituierte erspart geblieben, weil sie ihre Tochter kennengelernt hätte? Hätten sie dann auch so ein Verhältnis wie jetzt entwickelt? Wären dann ihre beiden Mütter vielleicht sogar Freundinnen geworden? Das waren so viele Fragen. Und da war noch eine weitere Frage: Wie sollte sie jetzt mit Onkel Robert umgehen, nachdem sie das alles wusste? Sie wusste ja nicht einmal mehr, wie sie ihrem Vater gegenüber empfinden sollte. Klar, er war ihr Vater......aber es fiel ihr schwer noch etwas Achtung für ihn aufzubringen. Von Liebe zu ihm, wollte sie nicht einmal mehr reden. Er hatte doch sowieso nur eins geliebt. Die Firma! Sie stand immer über allem. Obwohl, da gab es schon noch etwas, was er genauso geliebt hatte. Sein Ego! Dann war aber auch schon Schluss. Alles andere war nur Beiwerk, was zu funktionieren hatte. Wieso war ihr das nicht schon viel früher bewusst geworden? Ein Rascheln riss sie aus ihren Gedanken. „Hallo Linus." Ina sprang vom Sofa auf, um ihren Freund mit einem Kuss zu begrüßen. „Stell dir mal vor, was ich heute alles entdeckt habe." Bestimmt war er begeistert von ihrem Schließfachfund und von ihrer romantischen Entdeckung bei Onkel Robert. Ja, Linus war im Gegensatz zu ihrem Vater ein romantisch veranlagter Mann, den so etwas mit Sicherheit begeisterte, nicht so wie ihr Vater, der garantiert nur das Gesicht genervt verzogen hätte. „Das du eine Firma hast!" Ina schaute Linus überrascht an. So einen zynische Ton war sie von ihm nicht gewohnt. „Ach nein, das weißt du ja. Sonst hättest du ja nicht die ganzen Handwerker einfach abgezogen." Wie bitte? „Ich habe doch nur ein paar Leute nach Bochum zu Genia und Luca in das Haus geschickt, damit es bis Weihnachten fertig ist. Unser Weihnachtsgeschenk sozusagen für die beiden." Linus wollte doch auch mit Sicherheit, dass sein bester Freund sich eine Menge Arbeit ersparte und zeitnah dort einziehen konnte. Vielleicht konnten sie ja dafür sorgen, dass sogar zwischen den Jahren schon der Umzug klappte. Wenn alle mit anfassten würde das mit Sicherheit funktionieren. „Ein paar Leute?" Linus schüttelte seinen Kopf. Hörte sich Ina eigentlich selbst zu? „Du hast die ganze Kolonne aus Witten abgezogen und damit die Baustelle dort zum Erliegen gebracht. Im übrigen unsere wichtigste Baustelle! Was du übrigens auch wüsstest, wenn du dich in den letzten Wochen mehr als ein oder zweimal im Büro hättest blicken lassen." Das war unfair, schoss es ihm durch den Kopf. Ina sah aus, als hätte er ihr ein Ohrfeige gegeben. Nein, es war nicht unfair. Oder zu mindestens nicht unfairer als ihn mit der ganzen Arbeit alleine dastehen zu lassen und sie dann auch noch zu torpedieren. „Du weißt genau, warum ich nicht da war", kam es leise von ihr und ihm tat seine Bemerkung schon leid. Plötzlich straffte Ina ihre Schultern. „Für mich ist in Bochum die Baustelle wichtiger und Punkt!" Okay, sie wollte also die Chefin herauskehren. Das konnte sie haben. „Wenn das so ist, dann kannst du ja das nächste Mal dem Kunden erklären, warum seine Baustelle brach liegt, obwohl wir ihm versprochen haben vorfristig fertig zu werden." Linus fuhr sich mit seiner Hand durch seine kurzen blonden Haare. Er hatte heute auf der Baustelle gestanden wie ein Depp, der nicht wusste, was in der Firma vor sich ging. Wie ein unzuverlässiger Vollidiot. „Bist du vielleicht mal auf die Idee gekommen über solche Einzelaktionen vorher mit mir zu sprechen?" Er funkelte Ina sauer an. „Das ist meine Firma. Da werde ich ja wohl das Haus meiner Mutter favorisieren können, ohne dich um ein paar Arbeiter anzubetteln." Okay, sie funkelte nicht weniger sauer zurück. Das ließ sein Blut gleich noch etwas mehr an Temperatur gewinnen. Er spürte förmlich die kleinen Blubberblasen, die darin aufstiegen, weil es den Siedepunkt erreicht hatte. „Klar kannst du das, aber dann kümmere dich auch um den restlichen Scheiß. Ich bin dann raus!" Wutentbrannt drehte er sich auf dem Absatz um und lief aus dem Haus. Die Eingangstür ließ er lautstark ins Schloss fallen. Den Reißverschluss seiner Jacke, die er sich noch auf dem Weg nach draußen gegriffen hatte, zog er bis ganz nach oben. Verflucht, es war ziemlich kalt geworden. Wenn das so blieb, sorgte das für weitere Verzögerungen auf den Baustellen. Was war er eigentlich für ein Idiot, sich darum gerade jetzt Gedanken zu machen? Sollte das doch Ina tun. Nein, innerlich schüttelte er den Kopf. Das war ja Quatsch. Er würde sie ja doch nicht im Stich lassen. Das konnte er gar nicht. Dazu liebte er sie viel zu sehr. Trotzdem ärgerte er sich über den Streit. Sie hatte die ganze Arbeit bei ihm abgeladen - also nicht, dass er sie nicht freiwillig angenommen hatte - konnte er da nicht wenigstens etwas Dankbarkeit erwarten? „Sie macht gerade eine schwere Zeit durch", hörte er ein leises Stimmchen in seinem Hinterkopf. Na und, das machte er auch. Oder was war mit seinen Albträumen und schlaflosen Nächten? Nahm da irgendwer Rücksicht drauf? „Wenn Ina davon wüsste, würde sie es bestimmt tun." Wieder diese Stimme. So langsam zweifelte er ja an sich selbst. Scheinbar hatte sein Gehirn durch den Schlafmangel schon Schaden genommen. Von der Seite drang laute Musik zu ihm. Sein Blick wanderte zur Lärmquelle. Eine Bar! Na das war doch genau das, was er gerade brauchte, um herunterzukommen. Außerdem konnte Ina zu Hause ruhig ein bisschen zappeln.
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Schuss und Treffer - in der zweiten Mannschaft ✔️ Teil 13
RomantikLinus und Ina sind schon seit zwei Jahren ein Paar. Gemeinsam führen sie das Bauunternehmen von Inas Vater, der seit seinem Herzinfarkt ein Pflegefall ist. Für Ina war der Weg in die Firma schon von kleinauf vorgezeichnet. Linus hatte sich sein Lebe...