Kapitel VIII

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Obwohl ich gestern Nachmittag bereits geschlafen habe, wecken mich Ameenas Rufe: „Cassiopeia, Liebes, es ist neun Uhr, komm bitte zum Frühstück!“
„Ja, ich komme“, antworte ich ihr verschlafen.
Im Speisewagen wird für uns ein Frühstücksbuffet aufgetischt. Das Frühstück in der Akademie besteht häufig aus Müsli und Vitaminshakes, hin und wieder etwas frisches Obst, nicht zu vergleichen mit dem hier.  Jedoch kenne ich viele der Sachen, die vor mir stehen. Einmal im Jahr feiern wir das vergangene Trainingsjahr in der Akademie und die Sieger spendieren Speisen aus dem Kapitol. Meistens findet es im Oktober statt, wenn der Verlust von zwei ehemaligen Akademisten etwas verwunden wurde oder der Sieger Zeit hatte, sich von den Spielen erholt zu haben. Besonders die älteren Schüler werden auf dem Fest geehrt und meist werden dort die ersten Ankündigungen gemacht, wer sich freiwillig melden möchte.
Ich nehme mir frisch gepressten Saft und Pancakes und setze mich neben Ameena an den Tisch. Annie und Finnick sind ebenfalls bereits da. Riven ist nirgends zu sehen.
„Guten Morgen“, begrüße ich sie. „Was steht heute an?“
Ameena ergreift das Wort: „Zuerst hast du noch ein wenig Zeit dich aus zu ruhen. Am Nachmittag kommen wir dann im Kapitol an und dort geht es dann auch schon gleich in die Parade! Das wird sehr aufregend. Distrikt vier wird leider nicht viel Zeit für sie Vorbereitungen haben, weil wir so spät ankommen, wegen dieses scheußlichen Sturms, aber ich habe keine Zweifel daran, dass ihr beiden glänzen werdet! Eure Stylisten sind ganz toll, ich verfolge sie schon ein paar Jahre, keine Sorge.“
„Danke“, presse ich kurzangebunden aus Höflichkeit hervor.
„Hast du schon Pläne, wie du dich präsentieren möchtest?“, fragt mich Finnick.
„Eine Freundin in der Akademie hat mich erst vor Kurzem darauf gebracht, mich mysteriös zu geben. Ich denke das wird auch ganz gut“, ich räuspere mich, „zu Riven und mir als Team passen. Sie meinte, ich hätte bereits eine verschlossene Aura und könnte das gut umsetzen.“
Finnick nickt konzentriert. „Das könnte wirklich gut funktionieren. Bei der Ernte wird dein Auftreten bereits Interesse geweckt haben. Bei der Ankunft solltest du dir einige Menschen gezielt rauspicken, mit denen du dich etwas unterhältst, bevor es weitergeht. Auf dem Wagen kannst du gerne wieder dein kleines Lächeln aufsetzen und Zuversichtlichkeit zeigen, versuch dabei aber nicht zu überheblich zu wirken. Das wird ein Balanceakt, aber du wirst das sicher gut hinbekommen.“
Als ich mein Frühstück aufgegessen habe, ist Riven immer noch nicht da. So viel zu unserer Zusammenarbeit. „Wenn es euch nichts ausmacht, würde ich gerne wieder in den Vorführwagen gehen.“
„Geh nur, ich komme vielleicht später nach“, erwidert Finnick. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Ich stehe auf und verlassen den Raum. Mein Herz pocht schneller, bei dem Gedanken, dass ich gleich meinen Vater bei den Hungerspielen sehen werde. Mein Magen krampft sich zusammen, als mir klar wird, dass ich auch seinen Tod sehen werde.
Ich lasse mich auf die Couch fallen und rolle mich wieder in die Decke von gestern ein. Der Bildschirm wird grellweiß, bevor wir zum ersten Mal die Arena erblicken.
„Willkommen zu den 54. Hungerspielen!“, ertönt eine Stimme, es ist nicht Claudius Templesmith, der heute die Spiele kommentiert.
Sie zeigen die Arena von oben. Es ist eine fast kreisrunde Insel mit einem hohen Berg in der Mitte. An den Rändern gibt es Strände und wilde Klippe, der Rest ist mit Urwald oder rauem, schwarzem Stein bedeckt. Zumindest Urwald und Strand hätten für meinen Vater bekanntes  Terrain sein müssen. Wir zoomen auf das Goldene Füllhorn heran. Normalerweise steht es immer relativ mittig in der Arena, hier befindet es allerdings auf einer großen Sandfläche am Strand. Es ragt fast ins Wasser, die Tribute stehen aufgereiht in einem Halbkreis auf der Seite in Richtung Wald. Jemand, der flüchten möchte und mehr in Richtung Wasser steht, hat schlechte Karten bei diesem Aufbau. Die Tribute fahren auf ihre Startplattformen hoch. Die meisten versuchen sich zu orientieren. Taylin steht mittig und hat damit gute Karten zum Weglaufen. Sie scheint im Kapitol beliebt zu sein, denn nicht weit von ihr liegt ein grüner Rucksack und ein Meter daneben eine kleine Axt. Mein Vater steht näher am Wasser und fasst das Füllhorn ins Auge. Mein Herz zieht sich zusammen. Wird er etwa bereits gleich sterben oder hat er sich den Karrieros angeschlossen und hat das Blutbad weniger zu fürchten?
Der Gong ertönt und die Tribute rennen los. Alles ist so chaotisch, dass ich kaum etwas mitbekomme. Die Cuts zwischen Taylin, die sich den Rucksack und die Axt schnappt und schnell in Richtung Wald rennt, und der Schlacht direkt am Füllhorn erfolgen rasch. Doch dadurch kann ich immerhin neben Taylin auch meinen Vater im Auge behalten. Er schlägt sich durch bis zu einem Dreizack, Messern und einem großen Rucksack mit Schlafsack. Automatisch kneifen ich die Augen zusammen, als eines der Kinder kurz vorm Tod steht. Mein Vater scheint sich überwiegend zu verteidigen. Gegen einen der Karrieros geht er aber so aggressiv vor, dass es persönlich wirkt. Das Blutbad ist noch nicht vorbei, da schafft auch er es in den Wald. Erleichtert atme ich aus. Er ist blutbespritzt und hat einige kleine Wunden erwischt, sieht aber sonst gut aus.
Ich schließe die Augen bis die letzten Kampfgeräusche verklungen sind. Eine Vierergruppe von Karrieros zieht sich ebenfalls in den Wald zurück, damit sie die Toten holen können. Der Sand ist rot vor Blut und als ich die ganzen toten Körper sehe, versuche ich den Gedanken zu verdrängen dass das bald meine Realität sein wird.
„Was für ein rasantes Blutbad“, fängt nun der Kommentator an, das Blutbad zusammenzufassen. Ich spule vor. Ertrage seine trockene, vielleicht sogar fröhliche Kommentare zu den gefallenen Tributen und ihren Mördern nicht. Besonders nicht, wenn Claudius Templesmith meinen Tod genau so ansagen wird. Ich denke an Blue, Coelin, Opal und Saphir, ich würde das an ihrer Stelle nicht ertragen können. Und Thy… Ohne dass ich es gemerkt habe, scheint sie mich sehr gemocht zu haben. Vielleicht habe ich anderen Menschen einfach nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Immer ging es nur um mich. Was wenn ICH in die Spiele geschickt werde? Warum sind MEINE Eltern verstorben? Warum ist es immer ICH gegen die ganze Welt?
Sobald ich wieder zuhause bin, sollte ich dringend mehr auf meine Mitmenschen achten, aber in den Spielen wird mein ichbezogener Charakter hoffentlich wenigstens zu etwas nütze sein.
Ich stoppe das Vorspulen, als wir Taylin an einem Fluss finden, an dem sie eine Wasserflasche auffüllt und dann den Inhalt ihres Rucksacks untersucht. Tabletten für sauberes Wasser, ein Messer, ein Feuerzeug, ein Erste-Hilfe-Set mit Nadel und Faden und ein Schlafsack und Plane. Eine gute Ausbeute für den Start, jetzt muss sie nur noch etwas essbares finden.
Plötzlich ertönen die Kanonen der gefallenen Tribute. Es sind zehn. Bereits am ersten Tag sind zehn der Tribute gestorben. Seufzend schließt die junge Frau für einen Moment die Augen, dann steckt sie das Messer an ihren Gürtel und setzt sich in Bewegung den  Flusslauf hinab.
Wir folgen jetzt der Karrierotruppe. Sie streifen durch den Wald und suchen ungeschickte Tribute. Sie schlagen sich mit ihren großen Waffen durch das Unterholz. Ich zwinge mich den Karrieros zuzusehen und mir vielleicht etwas für mich selbst zu merken. Doch der Gedanke mit so einer großen Gruppe unterwegs zu sein, behagt mir bereits jetzt nicht, obwohl die Karrieros in diesem Jahr nur zu viert sind. In den meisten Jahren sind die Gruppen zumindest zu Beginn etwas größer, damit sie sich auch aufteilen können.
Sie schalten an diesem Tag noch das Mädchen aus fünf und den Jungen aus neun aus, dann gehen sie zurück zum Füllhorn, wo sie den Jungen aus elf vertreiben. Er läuft weg, bevor ihre Waffen ihn erreichen.
Die erste Nacht bricht an. Taylin hat inzwischen das Meer erreicht und sucht nach einem passenden Lagerplatz. Sie wählt schließlich einen der Bäume wieder etwas tiefer im Dschungel.
Sie zeigen die gefallene Tribute und dunkeln dann die Bildschirme ab. Der Kommentator fasst den ersten Tag noch einmal zusammen. Ich höre es mir nur an, um die Zusammenfassung zu meinem Vater zu hören. „Nachdem das weibliche Tribut im Blutbad gefallen ist können wir aus Distrikt vier nur noch Gigi Oliver folgen.
Nach dem Blutbad läuft er den Strand entlang, als würde er etwas suchen. Ist es etwa ein anderes Tribut?“ Sie blenden eine Karte der Arena ein. „Er befindet sich nun in der Nähe der Flussmündig gar nicht so weit weg von Taylin aus Distrikt sieben. Bei der guten Ausbeute von Gigi am Füllhorn bleibt es zu bezweifeln, ob eine Begegnung morgen für Taylin gut ausgehen würde.“ Nachdem sie ein paar Worte für die anderen verbliebenen Tribute eingebunden haben, wird ein herrlicher Sonnenaufgang über dem Meer gezeigt.
Mein Vater erscheint im Bild. Er sitzt am Strand, hat sich die Jacke um den Hals gebunden und packt seinen Schlafsack zusammen. Dann steht er auf und geht die letzten Meter zum Flusslauf, an dem er sich hinsetzen und beginnt Netze zu knüpfen. Plötzlich erklingt eine helle Stimme: „Na, bist du öfter hier?“ Es ist Taylin, die aus den Wäldern tritt, sie sieht entspannt aus.
„Bisher noch nicht, aber es gefällt mir hier glaube ich, die Gesellschaft ist gut.“ Auch wenn der Spruch sich vermutlich auf Taylin bezieht, wirkt er makaber mit dem ganzen Blut in seinem Gesicht.
Sie verzieht das Gesicht. „Ich bin froh, dass du das Blutbad überstanden hast, aber du solltest dich echt mal waschen, das sieht brutal aus.“
„Ist ja schon gut, es ist auch schön dich zu sehen, Taylin. Ich gehe mich waschen und du passt auf meine Taschen auf.“
„Anscheinend hat sich hier bereits vor den Spielen eine Allianz gebildet, die wir nicht erwartet haben“, wirft der Kommentator ein. „Auch wenn es seltener vorkommt als Bündnisse innerhalb des eigenen Distrikts, ziehen einige Tribute vor, mit einem Partner die ersten Tage oder Wochen der Hungerspiele zu bestreiten. Häufig entwickelt sich daraus eine Romanze. Was wohl Gigis Verlobte zu Hause darüber denkt? Wir werden es erfahren, wenn der Junge noch ein paar Tribute überlebt. Bleiben sie gespannt.“ Während der Kommentator schmunzelt, verziehen ich angewidert das Gesicht und klammere mich in das Kissen, das ich umarme. Vielleicht hatte meine Mutter gar nicht wegen der Hungerspiele und seinem Tod nie über meinen Vater geredet, sondern weil Taylin und er tatsächlich mehr als Verbündete wurden. Ich schlucke schwer, wenn ich daran denke, wie sie sich gefühlt haben muss.
Auf dem Bildschirm tauschen sich die beiden inzwischen über ihre Vorräte aus. Gigi versucht sein Glück beim Fischen und Taylin inspiziert die Früchte in der Nähe. Während Taylin kein Glück hat, fängt mein Vater einige Fische.
„Wir sollten in den Wald verschwinden“, sagt mein Vater, während sie den rohen Fisch essen. „Hier sind wir ungeschützt vor anderen Tributen und der Sonne. Vielleicht finde ich tiefer im Dschungel auch einige Pflanzen die wir essen könnten.“
Taylin stimmt zu und gemeinsam gehen sie in den Wald. Am Flusslauf weiter oben finden sie eine winzige Höhle, die gut zu verteidigen scheint und in die sie geradeso beide passen.
Auch bei den Karrieros verläuft der Tag weitestgehend ruhig, sie treffen auf ein Tribut, das sie zwar treffen, aber nicht töten können. Ich glaube, es war der Junge aus drei.
Es widert mich an, aber so langsam kann ich selbst die Kapitolbewohner etwas besser verstehen. Alles wird so aufgeplustert und spannend zusammengeschnitten und kommentiert, dass ich wissen möchte, was als nächstes passiert und wer als nächstes stirbt und verliere dabei aus den Augen, dass das echte Menschen waren, Kinder.  
Obwohl nicht viel passiert ist berichtet Lucius Light, inzwischen kann ich mir seinen Namen merken, über den Tag. Die meisten Tribute haben sich bedeckt in ihren Verstecken gehalten. Bisher haben nur wenige Essen gefunden. Obwohl die Insel vor Pflanzen strotzt scheinen die wenigsten Essbar zu sein oder beim Anschneiden oder öffnen vollkommen verdorben.
Wir sehen eine Nachteinstellung der Insel ein Schrei durchzuckt die nächtliche Stille. „Hey.“ Ich zucke zusammen, weil zugleich der Kanonenschuss für das Tribut aus Distrikt drei erklingt, das die Karrieros jetzt erwischt haben.

Die Tribute von Panem - Eisige WellenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt