Nachtfalter - III

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Seine Stimme riss die Frau aus ihrer Starre; sie zuckte zusammen, löste die Hand vom Stein und schaute in seine Richtung.
Sie atmete hektisch, die Verwunderung über das Geschehene lag unverkennbar in ihrem Gesicht. Ihre Blicke trafen sich. Der Dunkelelf war selbst erstaunt, erstaunt darüber, dass der Klang seiner Stimme sie zurückgeholt hatte -
Der Letzte hatte nicht solches Glück -

  »Was -?«, die Frau stockte. Sie konnte kaum sprechen.

Der Dunkelelf schüttelte den Kopf: »Ich weiß nicht viel und nur eines sicher: Wenn man es zu lange berührt, kommt man nicht mehr davon los. Es vereinnahmt einen einfach. Mit der Zeit.«

  »Vereinnahmt -«, sie wiederholte das Wort ungläubig. Ihre Stimme klang heiser, aber ihr Atem wurde ruhiger.

  »Anders kann ich es nicht beschreiben«, erklärte der Dunkelelf. Die Erinnerung an den Tölpel, der wochenlang am Stein stand, vor sich hin wimmerte, während er sich langsam immer mehr auflöste und eins mit dem Stein wurde, war noch sehr deutlich.

Die Frau atmete noch einmal tief durch; sie rieb die Hand, mit der sie den Stein berührt hatte.
Der Dunkelelf betrachtete sie: Ihre Aura war hell und warm, schillerte in bekannten Farben und hatte etwas Heimisches. Sie war von Magie umgeben, die seiner sehr ähnlich war. Es war schon lange her, dass er etwas vergleichbar Vertrautes gespürt hatte, auch wenn dort etwas Verborgenes zu lauern schien, unergründlich tief, so anziehend und doch angsteinflößend zugleich.

Sie hob den Handschuh auf, der ihr zuvor entglitten war, schaute dann wieder zu ihm herüber, so als habe sie seine Anwesenheit für einen Moment vergessen. Sie schien gedankenversunken, aber dann fasste sie sich. Der Dunkelelf konnte es daran erkennen, wie sie die Schultern straffte und das Kinn hoch reckte.

  »Und wer seid Ihr?«, ihre Stimme klang nun herausfordernd. Sie versuchte die Kontrolle zurückzuerlangen, die sie zuvor so unachtsam abgegeben hatte. Ihre Aura leuchtete auf, als sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn bündelte.

  »Ich bin Niemand von Interesse«, bemerkte er ruhig, hob beschwichtigend die Hände.

Sie hatte große, mandelförmige Augen; sie funkelten. Der Dunkelelf konnte sehen, wie hin- und hergerissen sie war zwischen Vorsicht und Neugierde, darauf bedacht, nicht den nächsten Fehler zu begehen. »Vielleicht überlasst Ihr mir die Entscheidung, was von Interesse für mich ist und was nicht«, sagte sie forsch.

Der Dunkelelf lächelte süffisant; das Spiel ging er ein. Wenn sie wirklich wissen wollte, wer er war, dann würde er es ihr zeigen, aber dann musste sie auch etwas von sich preisgeben. »Ich denke, wenn sich der Gastgeber vorstellen muss, sollte es der Gast genauso tun«, sagte er und ging langsam auf sie zu.

Sie verfolgte jede seiner Bewegungen, ihre Aura loderte. Er spürte Splitter unter seinen Füßen, zerbrochene Kacheln, winzige Steinchen, feinste Kristalle und Glas. Er ging weiter, es war beinahe wie ein Tanz.
Ihre Haut war samtig, in der Farbe zart und hell, das Haar lang und dunkel und zum Großteil zu vielen unterschiedlich starken und langen Zöpfen zusammen geflochten. Am Hinterkopf bildete ein Teil der Zöpfe einen losen, wilden Knäuel, zusammen gebunden von einem roten Perlenband. Ihr Kleid bestand aus mehreren Lagen verschiedener Stoffe, deren Farben an einen tief im Tal liegenden Wald erinnerten, Stiefel und Umhang waren von Witterung und langen Märschen gezeichnet. Die Zweckmäßigkeit konnte jedoch nicht über ihre Anmut hinwegtäuschen. »Ich bin kein Gast.«

  »Nicht? Ich dachte, so nennt man sein Gegenüber, wenn es das eigene Heim betritt. Auch wenn es unaufgefordert ist – « Er tat noch einen Schritt, spürte ihre Aura nun ganz deutlich vor sich: »Unerwarteter Besuch, sozusagen.«

Ein letzter Schritt und er berührte ihre Aura, und es war, als würde er einen Feuerkreis betreten. Augenblicklich umloderte ihre Aura ihn. Er spürte die feine magische Struktur, die wie ein zweiter Herzschlag pochte und ihn mit jeder neuen Schwingung genauso erfasste, wie er sie. Ein Tanz in der Tat; einerseits so familiär und doch so fremd.

Der Dunkelelf konnte nicht umher, die Hexe weiter anzuschauen, nun jedoch mit einem anderen Blick: Die in ihr wohnende Magie ließ das Grün ihrer Augen schimmern und im gleichen Takt wie ihre Aura pulsieren. Unzählige Narben waren nun für ihn sichtbar, Narben, die ihre Handgelenke, Hände, ja gar jeden einzelnen Finger, ihren Hals und ihr Gesicht zeichneten. Wie feine Spinnfäden zogen sie sich über die Haut, auf den Händen und Fingern feiner, an den Handgelenken und am Hals stärker und deutlicher, Bändern gleich. Am Hals umschlungen sie die Kehle und wanderten in feinen Adern hinauf, über das Kinn und um den Mund herum, wie feingliedrige Finger, die versuchen, den Mund zu verschließen. Er kannte das Muster, das die Narben bildeten; es waren Abdrücke von Hexenfesseln, nur war er sich nicht sicher, wie sie es geschafft hatte, sich diesen zu entledigen. Die Hexen, die er jemals mit Hexenfesseln gesehen hatte, hatten die Prozedur nicht überlebt.
Was seine Aufmerksamkeit jedoch am meisten einfing war der Schatten, der sie umgab; wabernd und flüchtig, wie Nebel an einem grauen Morgen, aber gleichzeitig deutlich erkennbar, scharfkantig und bedrohlich, wie lebendige Dornen. Sie war von Dunkelheit umgeben, die wie etwas Verborgenes in ihr lauerte, unergründlich tief, so anziehend und doch angsteinflößend zugleich.

Die Hexe erwiderte seinen Blick standhaft, sie wankte nicht, selbst jetzt nicht, als alles offen zu liegen schien. »Nah genug, um zu erfahren, was Ihr wissen wollt?«, fragte sie. Ihre Mimik verriet keinerlei Unsicherheit mehr.

Der Dunkelelf lächelte, dieses Mal ehrlich. Der Tanz war vorbei und er hatte das Spiel verloren; während er überwältigt war von ihr und ihren Geheimnissen, schien sie kaum beeindruckt von ihm. Widererwartens fühlte sich die Niederlage nicht schlecht an, im Gegenteil. Von ihrer Aura umschlungen zu sein war beinahe berauschend und vertrieb jedes schlechte Gefühl. Sein erster Eindruck hatte ihn nicht getäuscht; sie war atemberaubend.
Es gab nicht viele Menschen, die einen Bund mit der Erde besaßen und die wenigen, die es taten, bezahlten nicht selten mit ihrem Leben. Besonders, wenn ihre Aura solchermaßen kräftig war; ausströmend, so um sich greifend, alles vereinnahmend. »Verzeiht. Ich war nicht darauf vorbereitet, hier jemandem von solcher Schönheit begrüßen zu dürfen. Und Eure Aura, nun – Ich konnte nicht anders«, sagte der Dunkelelf.

Die Hexe schaute ihn prüfend an: »Schönheit – « Ihre Stimme klang so, als stünde sie kurz davor, loszulachen.

  »Kraftvoll und sanft, kämpferisch und zerbrechlich zugleich, wunderschön, aber nur sichtbar für die, die wissen, wonach sie im Verborgenen schauen müssen. Wie ein Nachtfalter.«

Etwas an ihrer Haltung veränderte sich: »Seid Ihr immer so leichtfertig mit Komplimenten?«

  »Nur, wenn es wahr ist.«

  »Ich muss Euch zugute halten; Eure Worte ehren nicht nur mich, sondern auch Euch selbst und eure Wortgewandtheit - «, sie zog den Handschuh wieder über ihre Hand und unterbrach den Blickkontakt. »Auch wenn ich mir nicht sicher bin, wovon Ihr nun genau sprecht: Von mir oder von meiner Aura.«

  »Wir Verblichene sind für unsere poetischen Worte bekannt, genauso wie für unsere Mysterien. Vielleicht meine ich ja beides«, entgegnete er provokant.

Er konnte sehen, wie sie ihn musterte. Da war sie wieder, die Zerrissenheit zwischen Vorsicht, Abwehr und dem Eingeständnis, dass sie sich geschmeichelt fühlte. Schließlich fiel ihr Blick auf den Stein auf seiner Brust und ihr Gesichtsausdruck wurde noch etwas weicher. »Schneeflockentanz, Winde in weiter Ferne, so weiß. Eine Stimme wie Samt, sie flüstert deinen Namen -«, sie schaute ihm wieder in die Augen.

  »- Grünlichterschein, Blüten in gefrorener Hand, so kalt. Der Klang des Morgens, doch die ihr folgten, niemals wiederkamen«, beendete er. Dass sie die Legenden seines Volkes kannte, beeindruckte ihn nur noch mehr, als hätte die Vertrautheit ihrer Aura und ihre Schönheit ihn nicht schon zu Genüge gefesselt. »Das macht es wahrlich nicht einfacher«, sagte er lächelnd, kopfschüttelnd.

Sie erwiderte nichts, aber es huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Da war es; das Eingeständnis, das er gesucht hatte. 

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 22 ⏰

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