55. Kapitel

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Great clouds roll over the hill, bringing darkness from above ~ Pompeii (Bastille)

Die nächsten zwei Tage vergingen ereignislos. Ich trainierte weiter mit Elyra, die das Gewitter gut überstanden hatte, und Benjamin und ich entdeckten die Magie der Wolke Sieben. Es war schon fast entspannend und man hätte annehmen können, alles wäre gut, doch als Hugo an diesem
Nachmittag auf die Lichtung zischte, bewies das Leben mir mal wieder das Gegenteil.

„Die Grenze! Emilia! Die Grenze hat sich verschoben!“ Ich drehte mich auf dem Rücken liegend zu ihm um. „Was ist los?“, fragte ich.
„Die Grenze ist in Holu! Das ist los! Larissa hat mir davon erzählt!“, rief er ganz aufgelöst. Sofort setzte ich mich auf.
„Was sagt er?“, fragte Benjamin
alarmiert.
„Die Grenze ist in Holu!“, wiederholte ich für ihn. Jetzt setzte er sich auch auf und nahm meine Hand. „Scheiße!“, fluchte er.

„Wie nah ist sie jetzt ungefähr?“, fragte ich. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Antwort hören wollte.
„Zu nah.“
„Geht’s ein bisschen genauer?“
„Dreißig Kilometer. Vielleicht vierzig“, schätzte Benjamin und fuhr sich mit der freien Hand durchs Haar. Ich drückte seine andere, um ihn zu beruhigen. Betroffen schwiegen wir. „Das geht so nicht weiter“, platzte es plötzlich aus ihm heraus. Hugo und ich sahen ihn an.

„Wir müssen deine Kräfte trainieren. Du musst lernen, damit umzugehen. Denn wenn du es nicht tust, dann …“ Er schluckte.
„Ich weiß. Und ja, du hast recht. Lass uns direkt anfangen. Wir haben noch zwei Stunden Zeit“, stimmte ich zu. Überrascht sah er zu mir, dann nickte er. „Los geht’s. Welches Element würdest du am liebsten lernen?“

„Wasser“, sagte ich wie aus der Pistole
geschossen. Benjamin grinste. „Alles klar. Okay, also … Versuch am besten erst mal, es heraufzubeschwören, oder was auch immer du da machst.“ Ich nickte und schüttelte meine Arme
aus. Und wie stellte ich das jetzt an? Okay, immer wenn es brannte, kam es von alleine. Aber ein Feuer wollte ich nicht legen. Schon gar nicht im Wald. Blieb also nur noch eine Lösung.

Ich musste mir Angst einjagen. Meine Fähigkeit reagierte sehr stark auf Angst. Ich stellte mir einen Waldbrand vor. In den Nachrichten waren manchmal Bilder und Videos von Buschfeuern in
Australien gewesen und diese Bilder rief ich mir nur in den Kopf. Ich stellte mir jede einzelne Flamme, jeden Funken einzeln vor. Meine Beine fingen an zu zittern. Wenn ich nicht schon säße, hätte ich es tun müssen. Ich spürte, wie sich in meiner Brust langsam, aber sicher das Wasser sammelte. Ich lenkte es meine Arme entlang und ließ es bis in meine Fingerspitzen fließen.

Ich war kurz davor, es loszulassen, als ich inne hielt. Wenn ich es jetzt aus meinem Körper lassen würde, wäre mein Körper quasi ohne Wasser. Und wie sollte ich mitten im Wald an Wasser
kommen? Es gab keine Möglichkeit … Oder vielleicht doch? Ich musste es erst ausprobieren, bevor ich bereit war, loszulegen. Also drängte ich das Wasser mit aller Macht wieder zurück in seine Umlaufbahn. Es war schwerer als gedacht. Als es geschafft war, atmete ich ein paar Mal tief durch.

„Alles okay?“, erkundigte sich Benjamin mit gerunzelter Stirn. Ich nickte. „Ja, lass mich kurz was ausprobieren.“ Ich legte meine Hand auf die Erde. Vor ein paar Tagen hatte ich gedacht, kein Wasser aus der Erde benutzen zu können, aber Fakt war, dass ich es überhaupt nicht ausprobiert hatte. Also konzentrierte ich mich auf die Erde. Ich folgte ihren Formen immer tiefer nach unten, dem Erdkern entgegen. Und dann hatte ich das Grundwasser erreicht. Ich fühlte es. Es waberte dort unten umher.

Ich fokussierte mich auf meine Hand und zog das Wasser damit an. Es floss die Erde hinauf und immer höher. Als es meine Hand erreichte und in
meinen Körper hineinfloss, zitterte ich kurz. Nach ein paar Sekunden hob ich meine Hand wieder. Ich fühlte mich wie eine vollgefüllte Wasserblase, die jeden Moment platzte. Jetzt musste
es wieder aus mir raus. Ich sammelte es in meiner Brust und schickte es meine Arme entlang.

Sobald es meine Fingerspitzen berührt hatte, ließ ich es frei. Dabei hielt ich meine Hände bewusst von Benjamin fern. Obwohl es sicher lustig gewesen wäre, wenn er nass geworden wäre.
Als das ganze Wasser draußen war, stellte ich mir vor, meine Fingerspitzen wären mit Eisen umgeben. Das Wasser kam nicht mehr hindurch und blieb in meinem Körper. Es verteilte sich
wieder in mir.

„Was war das denn?“, fragte Benjamin verwirrt. Schnell erklärte ich es ihm. „Ich habe das Wasser, das ich aus meinen Händen geschossen habe, vorher dem Boden entnommen.“ Seine Augen weiteten sich. „So etwas geht?“, fragte er erstaunt.
„Sieht wohl so aus.“
„Und wie? Ich meine, wie hast du es geschafft, dass das Wasser dir gehorcht? Wenn ich an die letzten Male
denke …“

Ich runzelte die Stirn. „Das klingt jetzt vielleicht doof, aber ich habe mir Angst
eingejagt. Ich habe an Feuer gedacht und dann ging es eigentlich ganz leicht“, antwortete ich.
„Angst?“ Benjamin schien zu überlegen. „Fühlst du bei den anderen Elementen auch etwas?“, fragte er dann. Erst wollte ich verneinen, doch im nächsten Moment fiel mir etwas auf. „Nei…
Doch! Als ich das erste Mal die Erde verformt habe, war ich einsam. Mina, meine Pflegemutter, hat mir zum ersten Mal meine Geschichte erzählt. Damals habe ich mich so einsam gefühlt. Mir wurde klar, dass mich meine Eltern nicht haben wollten und mich abgeschoben haben.

Ich bin in mein Zimmer gegangen und da stand eine Pflanze. Als ich mich auf mein Bett gesetzt habe und die Erde im Blumentopf angeschaut habe, ist sie in die Höhe gewachsen. Ich habe mich zu Tode erschreckt, das kannst du mir glauben. Aber warum willst du das wissen?“
Benjamin runzelte die Stirn. „Na ja. Es könnte doch sein, dass sich die Elemente von Gefühlen leiten lassen. Deine Geschichte hat diese Vermutung bestätigt. Erde wird von Einsamkeit hervorgerufen. Wasser, nehme ich an, von Angst“, erklärte er mir. Erst sah ich ihn nur an, dachte über das nach, was er gesagt hatte, doch dann fing ich langsam an zu nicken. „Das … ergibt erstaunlich viel Sinn.“

„Ich weiß. Alles, was ich sage, ergibt Sinn. Deswegen nennt man mich auch Benjasinn“, meinte er grinsend. Wow. Wie schlecht war das denn?
„Wer nennt dich so? Dein Ego?“, meinte ich mit hochgezogenen Augenbrauen und unterdrücktem Grinsen. Benjamin schüttelte den Kopf. „Nein. Ich. Und mein Sinn für Humor.“
„Dein Sinn für Humor? Der existiert quasi nicht.“
„Quasi! Aber ein letzter Rest ist doch vorhanden. Und der ist richtig stark ausgeprägt. Also habe ich Sinn für Humor“, widersprach Benjamin.

„Aha. Dann richte ihm mal aus, dass er einen Gang runterfahren sollte, weil er sonst ganz schlechte Chancen hat, bei irgendjemandem zu landen
und …“ Auf einmal beugte Benjamin sich vor und küsste mich. Für einen Moment setzte mein Herz aus, bevor es mit dreifacher Geschwindigkeit losraste. Überrascht erwiderte ich den Kuss. Benjamins Hand schob sich hinter meinen Kopf und er fuhr durch meine Haare. Das leichte Ziehen an meiner Kopfhaut machte den Kuss umso intensiver.

☆☆☆

Am nächsten Tag schaffte ich es, die vollen sechs Stunden zu trainieren. Benjamin und ich fanden heraus, dass das Element Feuer durch Selbstlosigkeit und Luft durch Trauer hervorgerufen wurde. Ich machte „einen auf Springbrunnen“, wie Benjamin es nannte und ließ immer wieder Wasser aus der Erde in mich hinein fließen, nur um es ein paar Sekunden später wieder hinaus schießen zu lassen. Diese Prozedur war anstrengender als ich gedacht hatte und so fiel ich am Abend hundemüde ins Bett.

Die Kraft der Elemente - Alles liegt in deiner HandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt