𝕰s war Herbstende und der Wintermonat hatte begonnen. Der Schnee tanzte vom bewölkten Himmel herab und hinterließ auf den Feldern und Dächern der Häuser eine glänzende Schneedecke. Ich saß vor den Mauern der Südburg und aß einige Scheiben des Kartoffelbrots, das von den Vorbereitungen für das Frühstück der grófnő übriggeblieben war. Da an diesem allerheiligsten Tag Gottes Ruhetag war, nahmen die meisten Bediensteten an der Messe teil und somit wirkte Burg Csejte nahezu wie verlassen.
Seit meinem Wiedertreffen mit Isten hatte sich auch mein Verhältnis zur Religion und der Heiligen Schrift verändert. Erachtete ich damals noch die römisch-katholische Kirche und Pál pápa den Fünften als legitimen Vertreter des Heiligen Vaters an, so befand ich neuerdings, dass es unser war, vom Weg der Spiritualität geleitet zu werden. Während die Religion uns aufforderte, aus den Erfahrungen anderer zu lernen, drängte uns die Spiritualität, unsere eigenen zu erforschen. Aus diesem Grund war die Spiritualität stets eine Lehre gewesen, die von der Religion nicht ertragen werden konnte. Sie ertrug es nicht, weil der Spirituelle zu einem anderen Schluss kommen konnte als ihre Heiligen. Weil der Spirituelle erkennen konnte, dass die Religion seine Gläubigen dazu verleitete, die Gedanken anderer zu studieren und sie als ihre eigenen zu akzeptieren. Weil die Religion die Selbsterkenntnis des Menschen fürchtete.
»Evièka«, hörte ich eine vertraute Stimme sagen.
»Oh, Gellért! Nehmt Ihr heute nicht an der Messe teil?«
»Heute nicht im Haus des Herren, sondern in meiner bescheidenen Kammer. Ich gedachte an diesem Tag, da ich vorerst all meine Dienste geleistet habe, heimzukehren. Möchtest du mich nicht begleiten?«
Wie gern hätte ich mich erhoben und wäre mit ihm aus den Toren dieser Burg gegangen, doch da ich anders als er nun ein festes Mitglied des Hausstandes der grófnő war, stand es mir nicht zu, ohne ihrer oder der Erlaubnis einer Autoritätsperson diese Mauern zu verlassen.
»Nichts würde ich lieber tun, doch befürchte ich, dass ich erst hierfür um Erlaubnis bitten muss.«
Ich sah die Enttäuschung, die sich in Gellérts Gesicht gebildet hatte. »Verzeih, darüber hatte ich nicht nachgedacht. Aber ich werde nicht lange weg sein. In drei Tagen werden wir uns wiedersehen!« Wir lächelten uns ein letztes Mal zu und ich schaute Gellérts Silhouette so lange nach, bis sie in der Ferne der weißen Landschaft verschwunden war.
Als ich mich zurück in die Küche begeben wollte, erblickte ich jene Frau, die die grófnő bei dem Namen ›Anna‹ gerufen hatte. Sie unterhielt sich mit Natália, die sichtlich eingeschüchtert den Worten dieser Frau mit gesunkenem Haupt zuhörte. Ich wusste nicht, wie ich sie einschätzen sollte, doch mir war bewusst geworden, dass Anna in der Gunst der Burgherrin stand. Freilich schien sie selbst vor Frau Semtész die Oberhand zu haben, doch dies war nur meine eigene Mutmaßung gewesen. Diese Frau hatte zweifellos meine Neugierde geweckt und ich die ihre, da sie alsbald meinen auf ihr ruhenden Blick bemerkt hatte. Unsere Augen trafen sich für einen Moment. Ich neigte mein Haupt zum Gruß und widmete mich wieder meinem eigentlichen Vorhaben. Genauso wie der kühle Herbstwind, der zuvor noch eine sanfte Brise war und nun begann, die Blätter zum Flüstern und die Äste zum Knarren zu bringen, wuchs auch das Gefühl der Unruhe in mir und ich fragte mich, welches Unheil diese Frau einst in seine Schatten hüllte.
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Am frühen Abend saß ich allein in der Küche und schälte einige Kartoffeln, die ich für das Abendessen vorbereitete. Seit heute Morgen, als ich sie mit Anna zusammen gesehen hatte, war ich kein weiteres Mal mit Natália zusammengetroffen. Auch als ich in ihrer Kammer nachschaute, fand ich diese leer vor. Das Knistern der Feuerstelle vermochte meinen aufgebrachten Geist zu beruhigen, so wurden meine Gedanken von allerlei Fragen geplagt, die zumeist einen äußerst behaglichen Ausgang nahmen. Was ging hier nur vor sich?
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Angst
Historical FictionIm Ungarn des frühen 17. Jahrhunderts häufen sich die grausamen Funde von Leichen junger Mädchen in der Nähe von Burg Csejte. Die Gerüchte über die Beteiligung der Gräfin aus dem einflussreichen Haus Báthori von Ecsed an diesen Serienmorden sind wei...