Ein Fisch im Wasser:
Ich muss von der Gruppe erzählen, mit der der alte Mann angereist war. Es war eine muntere Truppe, wo ständig Worte hin und her flogen. Sie nahmen mich in ihre Mitte und ich schwamm mit wie ein Fisch im Wasser, der seinen Schwarm gefunden hatte - erstaunt. Dass um mich herum Hevrit, also modernes Hebräisch, erklang, verwirrte mich nicht. Ab und zu wandte sich jemand auf Englisch an mich und bezog mich ein. Das Signal war: Du gehörst hier dazu. Entspann dich und lass es dir gut gehen.
Nur einer machte 'Probleme'. Yuval war ein wütender junger Mann, Sohn deutscher Einwanderer, die vor dem Nationalsozialismus fliehen mussten. Er verstand Deutsch sehr gut, nutzte es aber nur, um mich in grotesken Inszenierungen als Deutsche bloß zu stellen. Als ich das Ganze zwar ernst, aber nicht persönlich nahm, fing er an, mich zu respektieren.
Die anderen sprachen prinzipiell Englisch. Über ihre Vorgeschichte erfuhr ich wenig.
Jeckes:
Über die 'Jeckes', diejenigen die aus Deutschland nach Israel gekommen waren, erzählten mir die anderen Anekdoten, über ihre sauberen Vorgärten, die Gardinen und Blumen am Fenster, die ganz eigene Kultur, die sie mitgebracht hatten. Ein beliebter Witz ging etwa so: Eine Gruppe Jeckes baut gemeinsam eine neue Siedlung. Sie stehen in einer Reihe und reichen die Eimer oder die Steine weiter und sagen: "Danke", "Bitte", "Danke", "Bitte" etc. Im heutigen Deutschland oder Israel macht dieser Witz vielleicht kaum noch Sinn. Doch ich verstand damals sofort.
Ich verstand, das Deutschland, gegen das Yuval sich auflehnte, war weder das schwierige, düstere Deutschland meiner Eltern noch die bleierne, klebrige Provinzialität, die mir zu schaffen machte, sondern das Deutschland, das seine Eltern zwar physisch verlassen hatten, aber geistig weiter bewohnten. Ein virtueller, aber wirkmächtiger Ort, wo Sauberkeit und Ordnung herrschten.
Kultur-Räume:
In Worms lernte ich als Begleiterin der Gruppe erstmals Mikwe, Synagoge und jüdischen Friedhof kennen, verstand etwas mehr von den damit verbundenen Traditionen und Ritualen, erfuhr, dass die SchUM-Städte Speyer, Worms (Uuorms) und Mainz im Mittelalter die Hochburgen askenasisch-jüdischer Kultur und Gelehrsamkeit waren.
Vor 2000 Jahren:
Jahre später erfuhr ich, dass die jüdischen Gemeinden in Deutschland und Frankreich auf die Römerzeit zurückgingen. Juden hatten sich im gesamten Römischen Reich verbreitet und waren schon vor der Zerstörung Jerusalems in der Diaspora häufiger als in Israel. (Barbara Beuys: Europa, Heimat und Hölle)
Auch in Babylon sind viele geblieben, und in hellenistischer Zeit hatten sich jüdische Gemeinden im hellenistisch beherrschten Raum verbreitet, in Kleinasien (Beispiel Saulus /Paulus von Tarsus), im ägyptischen Alexandria oder im persischen Isfahan. Als Maria und Josef mit dem kleinen Jesus nach Ägypten flüchteten, verließen sie nur einen Ort mit griechisch-hellenistischer Kultur und römischer Oberherrschaft, um in einer anderen Stadt mit griechisch-hellenistischer Kultur und römischer Oberherrschaft Unterschlupf zu finden. An diesem ungenannten Ort - möglicherweise Alexandria - fand sich eine andere jüdische Gemeinde, die sie aufnahm.
Nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer verbreiteten sich verstreute jüdische Gemeinden bis nach Indien und China (ARTE). Es blieben aber auch viele im Land und bildeten neue Gemeinden. Die Vertreibung war weder unter den Assyrern noch unter den Römern vollständig. Genau wie die Rückkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft nie vollständig war. (Barbara Beuys)
Weite und Enge:
Unter römischer Herrschaft genossen die Juden ursprünglich wichtige Privilegien, die den christlichen Gemeinden fehlten, sobald sie als eigene Religion hervor traten: Das Privileg, den römischen Göttern nicht huldigen zu müssen, und das Privileg der eigenen Gerichtsbarkeit für interne Angelegenheiten. Beides war wichtig für das Funktionieren der Gemeinden. Denn das Judentum als Gesetzes-Religion mit seinen über 600 Gesetzen, die quasi jeden Aspekt des Alltags regeln, ist auf eine funktionierende interne Gerichtsbarkeit angewiesen. Und das Anbeten fremder Götter ist strikt verboten.
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Die Fülle des Lebens
Non-FictionEigentlich wollte ich nur eine Mail schreiben. Doch die wurde zu lang und niemals abgeschickt. Ich wollte einem Bekannten, mit dem ich vor Monaten über Nachhaltigkeit und Entfremdung gesprochen hatte, berichten, welcher stetige Strom an Gedanken aus...