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Aufstehen ist schwierig und ehrlich gesagt will ich es auch gar nicht. Ich will liegen bleiben. Und die anderen Menschen können mich gerne sterben lassen. Ich liege einfach dort im Regen und jedes Mal, wenn ich versuche, mich aufzurichten, hält mich etwas davon ab. Und es ist nicht einmal der eher moderate Schmerz in meinen Händen, Armen und an meinen Knien, sondern das Gefühl dessen, dass ich es nicht anders verdient habe, als im kalten Regen auf dem kalten Boden zu liegen und dann ganz langsam so erfrieren und zu zerfließen. Von mir würde nicht mehr viel übrig bleiben. Und es interessiert niemanden.

Für einen kurzen Moment schließe ich meine Augen, der Regen tropft einfach auf mich und ich spüre, wie meine Kleidung, der braune Rock, die beigefarbene Bluse und mein beigefarbener Mantel, der mir kaum Wärme bietet, durchnässt werden. Schon einige Sekunden später klebt meine Kleidung an meiner Haut - eklig und feucht. Sicherlich trage ich eine Erkältung davon, sofern ich in diesem Regen nicht erfriere. Aber es ist sowieso egal, denke ich, während ich den Beton der Treppe anstarre und die Regentropfen weiterhin auf mein Gesicht prasseln.

Und wieder will ich die Augen schließen, aber dann höre ich Schritte, welche sich mir nähern. Kurz stocken sie, dann höre ich ein erschrockenes Einatmen - dem Klang nach zu urteilen wahrscheinlich von einer weiblichen Person. Und daraufhin läuft sie die Treppe hinunter auf mich zu. Ich kann meine Augen nicht öffnen - sie sind viel zu schwer und müde. Mein Körper schmerzt von all den innerlichen Qualen und der Tatsache, dass ich nichts mehr bin, als eine Enttäuschung. Eigentlich habe ich es gar nicht verdient, an diesem Ort zu studieren, schließlich bin ich nicht gut genug. Und ich bin unfähig dazu, ein normales Leben zu führen.

Plötzlich spüre ich eine warme Hand auf meiner Schulter. Sofort reiße ich meine Augen auf und beginne, hektisch zu atmen. Eigentlich kann mir egal sein, wer es ist, schließlich zählt sowieso nichts mehr, aber trotzdem erschrecke ich mich.
-"Hey... Ich tue Ihnen nichts, okay?", höre ich eine ruhige, tiefe Stimme sagen. Kurz wird meine innerliche Anspannung deutlich weniger und ich stelle mir zwangsläufig eine bestimmte Frage - wie kann es sein, dass Prof. Dr. Taghavi während der Vorlesungen und allgemein im Universitätsgebäude immer so kalt und unnahbar wirkt, nun aber so aufmerksam und beinahe schon empathisch mit mir spricht.

Langsam hilft sie mir dabei, mich aufzurichten. Ich nehme nichts so wirklich wahr, sondern merke einfach irgendwie nur, wie sie, diese große Frau vor mir sitzt und ihre beiden Hände vorsichtig auf meine Schultern gelegt hat. Eigentlich habe ich gedacht, ihre Berührungen würden sich eiskalt anfühlen, stattdessen tragen sie eine angenehme, beruhigende Wärme in sich. Ich sehe meiner Professorin in die Augen und hoffe einfach, dass es nicht so sehr auffällt. Ich denke schon wieder Unsinn. Nur Unsinn. Ich bin dumm.

Und als sie gerade meine Hände in ihre nehmen und meine Verletzungen anschauen will, spüre ich den plötzlich sehr starken Drang, sie abzuweisen, sie wegzuschicken. Ich verdiene es eigentlich gar nicht, dass sich jemand um mich kümmert. Weder körperlich, noch psychisch. Ich bin es mit meiner Dummheit und Unfähigkeit einfach nicht würdig und mein Inneres schreit nach Selbstbestrafung. Und am liebsten würde ich es ihr auch genau so kommunizieren. Doch irgendetwas in ihrem Blick, in ihrer Haltung, lässt mich zögern.

"Bitte...", beginne ich fast tonlos. Ich fühle mich, als wäre ich sogar zu schwach zum sprechen. "Bitte lassen Sie mich einfach hier liegen und sterben", flüstere ich verzweifelt. "Ich habe es nicht anders verdient."
-"Nein, Aimée... Solche Dinge dürfen Sie nicht sagen...", kommt direkt von meiner Professorin. Sie sieht mich über den Rand ihrer Brille an und ich versinke in ihren tiefbraunen Augen, bevor alles durch die Tränen verschwimmt.
Langsam und ganz sanft berührt sie meine Schultern und hilft mir, sich aufzurichten. Ich selbst fühle mich jedoch wie ein lebloses Etwas. Fast so, als würde ich direkt wieder zur Seite fallen, sobald Prof. Dr. Taghavi mich loslässt.

Ein paar Sekunden später sitze ich mit dem Rücken an die Betonwand neben der Treppe gelehnt und starre einfach geradeaus. Ich merke, dass Prof. Dr. Taghavi bei mir ist, aber es ist mir egal. Sie kann mich genau so gut alleine lassen, sie kann mich einfach hinter sich lassen. Immerhin scheint sie mich eigentlich nicht besonders sehr zu mögen.
Trotzdem kniet sie in diesem Moment schräg vor mir, ihre warmen Hände ruhen immer noch auf meinen kalten, vollkommen durchnässten Schultern. Und tatsächlich fühlt sich ihre Berührung nicht einmal hart oder kühl an, sondern sanft und voller Besorgnis. Aber wahrscheinlich bildet sich das mein Kopf nur nach mindestens zehn Jahren ohne ernst gemeint liebevolle Berührungen nur ein.

-"Aimée, was ist denn passiert?", fragt die große schwarzhaarige Frau mich. Ich schweige und starre geradeaus, genau an ihren dunkelbraunen Augen vorbei. Eigentlich weiß ich gar nicht, was meine Professorin überhaupt noch hier bei mir, einer vollkommenen Enttäuschung will. Sie ist nicht gerade freundlich und einfühlsam gewesen, als sie vor kaum einer halben Stunde mit mir gesprochen hat. Am meisten Sinn würde es doch machen, wenn sie einfach aufsteht, weitergeht und mich hinter sich lässt. Ich verdiene es nicht anders und außerdem mag sie mich sowieso nicht.
"Sie hassen mich... Also warum kümmern Sie sich um mich?". Diese Worte kommen, ohne weiter darüber nachzudenken, aus meinem Mund. Meine Stimme klingt monoton, ich selbst nehme sie nicht einmal wirklich wahr.

Prof. Dr. Taghavi sieht mich auf einmal sehr ernst und besorgt an. Ihre dunkelbraunen Augen versinken in meinen und es macht mir fast ein wenig Angst, wobei mich durch ihre Hände auf meinen Schultern immer noch eine sanfte Wärme durchfährt.
-"Ich hasse Sie nicht, Aimée... Wenn Sie das aufgrund unseres Dialogs vorhin denken, dann tut mir das sehr leid", meint sie, während sie ihre Hände von meinen Schultern löst, um sich meine aufgeschürften Hände und Knie anzusehen.
-"Außerdem ist es mir gerade sehr nebensächlich, ob Sie mir sympathisch sind oder nicht... Sie sind verletzt und ich kümmere mich um Sie...", erklärt sie mir dann und während sie spricht ist wieder diese Wärme in meinem gesamten Körper. Ich nicke einfach nur als Antwort.

-"Wir können uns irgendwo nach drinnen setzen, Aimée oder vielleicht zu meinem Auto gehen, da habe ich auch Verbandszeug... Oder ich kann Sie auch zum Arzt oder ins Krankenhaus bringen... Immerhin kann bei so einem Sturz auch viel mehr passiert sein, als nur die Schürfungen an den Händen und Knien...". Ich höre nur ein Wort. Krankenhaus. Meine Augen füllen sich mit kalten Tränen und meine Sicht verschwimmt.
"Nein", sage ich einfach und schüttle energisch den Kopf. "Alles, aber bitte nicht ins Krankenhaus oder so...".

AndromedaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt