Nun, auf den Dächern, verlor Ejahls Haltung einen Teil ihrer Anspannung. Er ging nicht länger so zusammengesunken wie auf den Straßen und straffte sogar die Schultern ein wenig.
Er hüpfte über einen schmalen Spalt zwischen zwei Häusern, ohne dem Sprung auch nur einen Gedanken zu schenken. V hingegen blieb wie angewurzelt stehen.
Instinktiv richtete sich ihr Blick nach unten und bei der Aussicht darauf, wie tief sie fallen würde, wenn sie nur einen falschen Schritt machte, zitterten ihre Knie.
»Deshalb sollst du nicht runterschauen«, sagte Ejahl vom anderen Dach aus.
V riss sich von dem Abgrund los und zwang sich, keinen zweiten Blick hinabzuwerfen, als sie einen Schritt auf die andere Seite zu dem Meisterdieb machte.
»Schau, das war doch gar nicht so schwer.«
Sagt derjenige, für den es zum Geschäft gehört, von Dach zu Dach zu springen. V warf ihm einen Blick von der Seite zu, antwortete aber nichts dazu und fragte stattdessen: »Wohin gehen wir eigentlich?«
Er hustete leise und winkte ab.
Und da erkannte V: Er glaubte immer noch, dass sie belauscht wurden. Obwohl hier auf den Dächern weit und breit keine andere Person zu sehen war.
Paranoider, alter Mann.
Ejahl verharrte. Er sah sich kurz um und sagte: »Lauf und spring.«
»Was?«, konnte V gerade noch fragen, ehe der Meisterdieb sich in Bewegung setzte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Er war schnell. Schneller, als sie ihm zugetraut hatte.
Beim Rennen flog ihr der viel zu lange Umhang zwischen die Beine, bis sie Geschwindigkeit gewann und der Wind den Stoff ebenso wie ihre Kapuze zurückschleuderte.
Ihr Herz trommelte in ihrer Brust. Ejahl hatte nicht nur von Laufen gesprochen.
Einige Meter vor ihr klaffte sich ein Abgrund auf. Sie warf einen Blick auf den Meisterdieb. Er konnte doch nicht ...
Seine Augen waren starr nach vorn gerichtet und er machte keine Anstalten, langsamer zu werden. Seine Schritte beschleunigten sich sogar.
›Spring‹, hallten seine Worte in ihrem Kopf nach.
V schluckte. Das ... das konnte er doch nicht wirklich planen. Mochte es für ihn auch alltäglich sein, ihr drehte sich bei dem Gedanken der Magen um.
Und daher betrachtete sie Ejahl fassungslos, als er das Ende des Daches erreichte und absprang. Auf der anderen Seite landete er leichtfüßig und wandte sich zu ihr um.
Sie fasste einen Entschluss: Sie würde springen.
Ihr Herz stolperte, so schnell raste es. Ihr Blut pulsierte in ihren Ohren und sogar bis in ihre Fingerspitzen.
Sie schaffte das.
Wenn es Ejahl gelungen war, dann wäre es für sie doch ein Kinderspiel. Er war schließlich alt und ... alt.
Ihre Brauen schoben sich zusammen, ihre Schritte beschleunigten sich.
Der Abgrund kam näher.
Unten wirbelten Farben und Stimmen flossen zu einem Meer ineinander. Die Straße war vielleicht nicht die Hauptstraße, aber trotzdem belebter als die Gassen, durch die sie Ejahl gefolgt war.
Im letzten Augenblick bremste sie ab. Sie stolperte vom Abgrund weg. Ein Zittern durchfuhr ihren gesamten Körper und sie zwang sich, ihren Blick zu heben.
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The Tale of Greed and Virtue
FantasiaWie viele Frevel verlangt eine Heldentat? Ejahl, der Meisterdieb, wird eines Abends von einem alten Freund mit einem merkwürdigen Anliegen überrascht. Als außerdem noch seine Ziehtochter verschwindet, gerät er an vorderste Front des Krieges zwischen...