Prolog

20 2 9
                                    

Ungeduldig starrte der Junge zum Zooeingang, während aufgeregtes Stimmengewirr die Luft erfüllte. Er war auf eine Mauer geklettert, um besser über die Wartenden hinwegsehen zu können. Obwohl man die neue Tierart schon lange bestaunen konnte, wurde die Zahl der Besucher nicht weniger. Ganz im Gegenteil: Die Leute schienen sich gar nicht daran sattsehen zu können.

In seiner Schule wurde über nichts anderes mehr geredet als über die Bestie. Immer neue wilde Erzählungen und Spekulationen machten die Runde und man wusste nie ganz, wem man glauben konnte und wer einfach zu viel Fantasie besaß. Nach jedem Bericht seiner Freunde sehnte er sich mehr danach, sich selbst davon überzeugen zu können. Und jetzt war es endlich so weit, er würde der Kreatur gegenüberstehen – wenn der Zoo denn mal öffnen würde. Nervös ging er auf der Mauer auf und ab, ohne das noch fest verschlossene, gusseiserne Tor aus den Augen zu lassen.

»Wer ist eigentlich auf die bescheuerte Idee gekommen, sich hier den ganzen Tag die Beine in den Bauch zu stehen?«, hörte er seinen großen Bruder genervt dessen Freundin fragen.

Darauf erwiderte sie leise, aber nicht leise genug, dass der Junge es nicht trotzdem hören konnte: »Du hast versprochen, zusammen mit ihm herzukommen und ich kann mir dieses Gequengel wirklich keinen Tag länger anhören. Also bringen wir es einfach hinter uns.«

Haha. Sehr witzig. Als ob sie selbst nicht auch neugierig war. Er rollte mit den Augen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde das Eingangstor geöffnet und es kam Bewegung in die Menge. Aufgeregt sprang er von seinem Aussichtspunkt herunter und lief zu seinem Bruder. Dieser war gerade im Begriff seine Freundin zu küssen, doch er hielt ihn mit einem leichten Boxen gegen seinen Arm davon ab.

»Kommt ihr endlich?«, fragte er genervt, da die beiden mal wieder nichts mitbekommen hatten.

»Klar«, antwortete die Frau mit einem aufgesetzten Lächeln und löste sich aus der Umarmung. »Gehen wir.«

Gerade als er loslaufen wollte, spürte er einen Ruck an seinem Kragen. »Zivilisierte Leute rennen nicht durch die Gegend, also benimm dich!«, herrschte ihn sein Bruder plötzlich an, der bis eben noch gegrinst hatte. Er hielt ihn noch einen Moment lang fest, bis der Junge widerwillig nickte.

In quälend langsamem Tempo schlenderten sie durch den Zoo. Wenigstens ließen sie die anderen Käfige links liegen und gingen auf direktem Weg zu dem neuen Gehege. Nun würde er endlich der Bestie in die Augen sehen können.

Automatisch wurden seine Schritte schneller. Er konnte schon die Metallstäbe sehen, vor denen sich eine Traube gebildet hatte. Er hörte Lachen und begeisterte Rufe; bestimmt die halbe Stadt war hier.

Er warf einen kurzen Seitenblick zu seinem Bruder, der gerade im Gespräch mit seiner Freundin vertieft zu sein schien. Perfekt. Er nutzte die Gelegenheit und rannte los, drängelte sich an den Familien und Paaren vorbei. Die genervten Rufe, mit denen sein Verhalten quittiert wurde, nahm er dabei kaum wahr. Er hatte nur ein Ziel.
Schließlich blieb er vor den dicken Gitterstäben stehen. Mit leuchtenden Augen betrachtete er das Wesen, das von einer Ecke des Käfigs zur anderen tigerte. Es lief auf zwei Beinen und hatte nur an manchen Stellen des Körpers helles Fell; besonders sein Kopf war voll davon. Der Junge kicherte, als er sah, dass dem Wesen sogar aus der Nase kurze Haare wuchsen. Auch an den Beinen stand ein heller Flaum unordentlich ab. Am Bauch hingegen war die schmutzige bleiche Haut völlig kahl.

Mit einem gruseligen Quietschen ließ das Tier seine Krallen über die Wand fahren und dem Jungen fuhr ein Schauer über den Rücken. Begierig folgten seine Augen dem Wesen, das an der Wand entlangging, begleitet von dem fürchterlichen Geräusch. Dann blieb es plötzlich stehen, drehte den Besuchern den Rücken zu und schlug unvermittelt den Kopf gegen die Wand. Wieder und wieder tat es das und der Junge ärgerte sich, dass es nicht etwas Spannenderes machte.

Da drehte sich das Tier um und er konnte Blut sehen, das über sein Gesicht strömte. Es war dunkelrot und lief in einer faszinierenden Geschwindigkeit über Hals und Körper. Als er die leeren Augen sah, mit denen die Kreatur in die Menge starrte, machte sich ein Grinsen auf dem Gesicht des Jungen breit und er fing an, schallend zu lachen.

Menschen gefielen ihm.

AllmachtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt