Eigentlich brauche ich diese Hilfe nicht und ich verdiene sie auch nicht. Aber diese Frau zieht es wirklich durch - warum tut sie sich das nur an? Ich bin es überhaupt nicht wert. Und mir ist bewusst, dass sich meine Gedanken diesbezüglich nur ständig im Kreis drehen, aber ich bin immer noch der Meinung, dass Prof. Dr. Taghavi mich auch einfach dort hätte liegen lassen können. Vielleicht hätte mich jemand anderes gefunden. Vielleicht hätte ich dort aber auch noch bis in die Abendstunden gelegen und wäre irgendwann an dem kalten Regen erfroren - immerhin müsste ich dann nicht mehr so sehr unter meinem Leben und meinem anstrengenden Dasein leiden.
-"Mein Auto steht dort drüben", meint die große Frau neben mir und zeigt kurz auf einen schwarzen SUV, welcher auf dem großen Parkplatz neben der Bibliothek steht. Irgendwie passt dieses Auto perfekt zu der Ausstrahlung meiner Professorin, denke ich sofort. Als Antwort auf ihre Aussage nicke ich einfach nur kurz und atme einmal tief durch, bevor wir losgehen. Eigentlich ist alles, was in diesem Moment geschieht und auch alles, was noch in den nächsten Minuten geschehen wird, vollkommen unrealistisch - zumindest für mich. Es passt nicht zusammen, dass sich jemand so sehr um mich kümmert, wie Prof. Dr. Taghavi es nun tut.
Während wir die Treppenstufen hinuntergehen und schließlich auch die Straße zwischen dem Universitätsgebäude und dem Parkplatz überqueren, hält sie mich sanft an meinen Schultern fest. So, als hätte sie Angst, ich könnte jeden Moment ein erneutes Mal fallen. Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf den leichten Schwindel und auf die kleinen Verletzungen an meinen Beinen lenke, dann mag meine Professorin zwar recht haben, aber dennoch bin ich diese Vorsicht und Aufmerksamkeit gar nicht wert. Eine Frau wie sie hat doch sicherlich so viele andere, viel bessere Dinge in ihrem Leben zu tun, als einer hoffnungslosen, dummen, hässlichen, lebensunfähigen Studentin zu helfen.
Schließlich erreichen wir ihr Auto. Sie nimmt mir meine Tasche ab und packt diese auf die Rückbank. Dann öffnet sie mir die Beifahrertür, während sie mich sanft an meinem rechten Oberarm festhält, als ich einsteige.
-"Ich hoffe, das ist so in Ordnung für Sie", sagt sie, als ich mich gerade auf den Beifahrersitz gesetzt und mich angeschnallt habe. Aus meinem Mund wollen keine Worte kommen, denn es ist viel zu überwältigend, dass sich jemand und dann auch noch eine Professorin, so sehr um mich kümmert. Ich hauche nur ein leises "Danke" und sehe dann aus dem Fenster. Draußen regnet es noch mehr, als vor ein paar Minuten.Ein paar Sekunden später sitzt Prof. Dr. Tagahvi neben mir und starrt gedankenverloren aus dem Fenster. Ich fühle mich seltsam dabei, sie so von der Seite aus anzusehen. Generell fühlt es sich für mich sehr seltsam an, hier auf dem Beifahrersitz ihres Autos zu sitzen. Es ist nicht nur so, dass wir uns in einer Grauzone bezüglich unserer beruflichen Beziehung befinden, sondern auch so, dass ich nicht weiß, ob ich das überhaupt verdiene - von meiner Professorin nach Hause gefahren zu werden, denn sicherlich hat sie viel bessere Dinge zu tun, als sich um mich zu kümmern. Ich verdiene es nicht. Und Prof. Dr. Taghavi wird es eines Tages in näherer Zukunft noch bereuen, sich das Ganze mit mir angetan zu haben.
-"Sie müssten mir aber schon Ihre Adresse sagen", holt die schwarzhaarige Frau neben mir mich aus meinen Gedanken. Ich presse meine Lippen aufeinander und sehe Prof. Dr. Taghavi, welche mich ohne eine besondere Emotion in ihrem Gesicht anschaut, tief in ihre braunen Augen. Sie starrt mir nahezu schon in die Seele, obwohl sie mich nur nach meiner Adresse gefragt hat. In meinem Oberkörper entsteht kurz ein kribbelndes Gefühl, welches ich nicht deuten kann und dann sehe ich schnell weg und diktiere ihr meine Adresse. Dabei schaue ich ununterbrochen auf meine eigenen Hände, die immer noch in blutige Taschentücher eingewickelt auf meinen Knien liegen. Ich traue mich gar nicht, woanders hinzuschauen, vor allem nicht zu meiner Professorin. Schließlich habe ich keine Ahnung, wo dieses kribbelnde Gefühl vorhin hergekommen ist und ob es womöglich durch sie ausgelöst worden ist.
Keine fünf Minuten später fahren wir los. Der Regen trommelt heftig auf die Fensterscheiben und der Scheibenwischer hat offensichtlich Probleme, mit diesen Wassermassen mitzuhalten. Mich beruhigt das Geräusch des Regens allerdings ungemein. Fast so sehr, dass ich beinahe vergesse, dass meine Hände und Knie schmerzen und dass ich mich gerade in dem Auto meiner Professorin befinde und sie mich nach Hause fährt. Sie müsste das eigentlich nicht tun und ehrlich gesagt bin ich mir nicht einmal sicher, ob sie es tun darf. Aber irgendwie fühlt es sich gut an - auch, wenn ich so viel Aufmerksamkeit, Hilfe und Wärme eigentlich gar nicht verdiene.
Auf der Fahrt reden wir kaum. Prof. Dr. Taghavi erinnert mich nur ganze dreimal daran, dass es gut wäre, wenn ich mich weiter um meine Verletzungen kümmere und es noch viel besser wäre, wenn ich in den nächsten Tagen einen Arzt aufsuchen würde, der sicherstellen kann, dass die Verletzungen an meinen Handflächen und Knien nur so oberflächlich sind, wie sie scheinen und keine Prellung, Stauchung oder Zerrung dahintersteckt. Ehrlich gesagt spüre ich die Schmerzen kaum noch - wahrscheinlich, weil ich schon viel schlimmere Schmerzen habe aushalten müssen und das nun nur eine winzig kleine Verletzung von einem unbedeutenden Unfall ist. Ich habe Verletzungen, die um einiges tiefer gehen. Aber das kann ich Prof. Dr. Taghavi natürlich nicht erzählen. Sie würde mich für schwach und verrückt erklären.
Als wir an dem Wohnkomplex ankommen, hilft sie mir noch aus dem Auto. Dabei spüre ich wieder die Wärme ihrer sanften Hände - sogar durch den dicken Stoff meines Mantels und der Wolle des Pullovers darunter spüre ich diese angenehme Wärme. Und so, wie sie mich vorsichtig an meinem Arm festhält und mich noch bis zur Tür bringt, fühle ich mich vollkommen sicher. Aber auch wie eine unendlich große Belastung. Das hätte nicht sein müssen, denn ich bin es nicht wert, dass man sich um mein Wohl kümmert.
-"Ich weiß, dass ich Sie nicht zwingen kann, Aimée... Aber bitte gehen sie zum Arzt", erinnert sie mich nun schon ein viertes Mal. Wie in aller Welt kann es sein, dass diese Frau sich so große Sorgen um mich macht? Es ist doch unwichtig, es sind nur ein paar Kratzer. So gerne würde ich ihr das nun alles ins Gesicht sagen, aber irgendetwas stoppt mich. Und deswegen kommt aus meinem Mund nur ein leises "Danke, wirklich danke...". Und daraufhin traue ich mich dann doch wieder, Prof. Dr. Taghavi in ihre dunkelbraunen Augen zu sehen und meinen Blick in diesen zu verlieren, um mich einfach nur nicht auf die reale Welt konzentrieren zu müssen.
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Andromeda
RomanceAimée ist schon immer eher introvertiert und sensibel, konnte sich nur schwer an neue Lebensumstände anpassen und ist von vielen Dingen überfordert. Trotzdem beginnt sie nun, mit 20 Jahren, ein Physikstudium an einer Universität in Berlin. Physik zu...