Kapitel 11

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Ich höre die Vögel zwitschern, rieche das feuchte Gras und die frische Morgenluft. Draußen ist die Sonne bereits aufgegangen und ich öffne verschlafen die Augen. Ich starre an die Decke von Twinkie und reflektiere den gestrigen Abend. Die Party, die Massenschlägerei und schließlich... mein Kopf dreht sich wie von selbst zu John B, der auf die Seite gedreht neben mir liegt. Ein Arm ist von sich gestreckt in meine Richtung und ich bette meinen Kopf wie selbstverständlich darauf und kuschle mich an ihn. Er brummt verschlafen, aber trotzdem schlingt er seinen anderen Arm um meine Taille und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. „Guten Morgen", flüstere ich und küsse seine Halsbeuge. „Hmm, mach weiter", murmelt er grinsend. Das Vibrieren eines Telefons lässt mich genervt aufstöhnen. „Nein. Die können warten", meint John B und zieht mich so dicht an sich, dass kaum noch ein Zentimeter Luft zwischen uns ist. Ich kichere leise, bis das Vibrieren verstummt und ich beruhigt aufatme. Er hat Recht. Egal, was jetzt jemand von uns will. Es kann warten. Doch das Handy klingelt wieder... und wieder... und wieder. Ich setze mich genervt auf, umschlinge meinen noch immer nackten Körper mit der dünnen Decke, die über John B und mir gelegen hat. Er reibt sich kurz das Gesicht, während ich mir schnell mein Hemd überschwinge und nach dem störenden Gerät suche. „Wenn es JJ ist, drück ihn direkt weg und komm wieder zu mir", raunt John B anzüglich und ich grinse ihn an, bevor ich die Quelle des Vibrierens finde. Meine Tasche. Als ich auf das Display sehe, erstarre ich. Hailey hat bereits dreizehn Mal versucht, mich zu erreichen! „Was ist los?", fragt John B, der meinen besorgten Gesichtsausdruck bemerkt. „Hailey. Sie... hat mich schon tausend Mal angerufen", sage ich beunruhigt und streiche mir die wirren Haare nach hinten, drücke auf den Wiederwahlknopf und lege mir das Handy ans Ohr. Hailes geht direkt dran. „Alexandra, wo bist du?!", schreit sie mir beinahe hektisch ins Ohr. Sie klingt gestresst und aufgewühlt. „Bei John B. Hab ich dir doch gesagt", antworte ich. „Bei ihm zu Hause offensichtlich nicht", wirft sie mir vor. „Nein, wir... haben in der Twinkie übernachtet", gestehe ich und beiße mir errötend auf die Unterlippe. John B grinst schelmisch sexy und ich drehe mich weg. „Was ist denn los?" „Du muss sofort nach Hause kommen. Jetzt gleich. Ich erzähle dir alles, wenn du da bist." „Aber..." „Tu, was ich dir sage!" Mit diesen Worten legt sie auf und ich starre auf mein Handy, als wäre es eine knifflige Aufgabe, die ich nicht lösen kann. „Was ist?" „Ich weiß es nicht. Hailey klang ziemlich... besorgt? Aufgeregt? Keine Ahnung. So hab ich sie noch nie erlebt. Sie will, dass ich sofort nach Hause komme. Sie hat es schon beinahe befohlen", erkläre ich und suche meine Sachen zusammen. Ich merke, dass ich mich wund anfühle und muss dringend erstmal duschen, wenn ich zu Hause bin. Dennoch war es die beste Nacht meines Lebens. Und ein noch dazu besseres erstes Mal hätte ich mir nicht vorstellen können. John B zieht sich ebenfalls seine Hose an und setzt sich schließlich ans Steuer. Unruhig trommle ich mit meinen Fingern auf meinen Beinen, bis er nach meiner Hand greift. „Hey, mach dir nicht so viele Sorgen. Wird schon nichts Großes sein", meint er aufmunternd. „Ich weiß es wie gesagt nicht", antworte ich seufzend. „Ich fand die letzte Nacht übrigens sehr schön. Ich hoffe, es war okay für dich?", wechselt er nun das Thema, um mich sicherlich abzulenken. „Es hätte nicht besser sein können", antworte ich lächelnd. „Gut. Da bin ich auch beruhigt." „Es war perfekt." Ich lehne mich zu ihm und küsse ihn auf die Wange. „Nicht den Fahrer ablenken", ermahnt er mich spielerisch und ich lache leise. Anscheinend schafft er es wirklich, mir immer ein Lächeln zu entlocken, egal, was gerade los ist.

Als wir in meine Straße einbiegen und kurze Zeit später unser Haus in Sicht kommt, falle ich beinahe im Sitz zurück. Ein Polizeiwagen hat in der Einfahrt geparkt und mir wird speiübel. Wirre Gedanken schwirren mir direkt durch den Kopf. Haben Topper und Rafe mich wegen irgendwas angezeigt? Ich würde es ihnen zutrauen. Ist was mit Hailey? Oder... mit meinen Eltern? „Alex?", spricht mich John B vorsichtig an, doch ich antworte nicht, sondern springe direkt auf. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass etwas Schlimmes passiert sein muss. John B schafft es noch, den Motor abzuschalten, doch da bin ich schon fast an der Haustür. Diese wird direkt vor meiner Nase aufgerissen und ich starre Hailey an. Ihre Augen sind rot und verquollen, Tränen sind zu sehen, doch der Rest von ihrem Gesicht ist kreidebleich. Ich kann gar nicht fragen, was los ist, da zieht sie mich einfach in ihre Arme. „Alex! Es tut mir so leid!", bringt sie schluchzend hervor und ich merke, wie sie am ganzen Körper zittert. „Was ist denn los?!", stoße ich erschrocken aus. Jetzt hab ich die Gewissheit, dass etwas geschehen ist. Nicht zu wissen, was es ist, macht mich regelrecht wütend. „Was ist passiert?!" Hinter ihr treten zwei Polizisten ins Bild. „Miss Harvelle, Sie sollten sich setzen und du, Junge, solltest verschwinden", meint der eine Cop an John B gewandt. „Kommen Sie, Shoup. Sie kennen mich!", meint John B beinahe lässig. „Das hier ist privat. Miss Harvelle? Die Zeit drängt." Hailey löst sich von mir und wirft mir einen vielsagenden Blick zu. Widerwillig drehe ich mich zu meinem Freund. „Schon gut. Keine Ahnung, was die wollen, aber ich sage es euch später." „Wie bitte? Du willst mich wegschicken?" „Ich will nicht, dass du Ärger bekommst", entgegne ich und sehe ihn flehentlich an, dass er jetzt nicht überreagiert. Doch das wäre nicht er. Ich sehe, dass es ihm missfällt und er mich ungern hierlassen will. Allein mit zwei Polizisten und meiner aufgelösten Tante. „Na schön, Sturkopf", gibt er nach, nimmt mein Gesicht in seine Hände und küsst mich zärtlich. Damit gibt er mir den Halt, den ich brauche, um mich dem Kommenden zu stellen. „Sehen wir uns später?", frage ich sehnsuchtsvoll. „Davon gehe ich aus. Immerhin kannst du meinem Charme nicht so lange widerstehen?" Ich sollte nicht lächeln, aber ich tue es dennoch. „Spinner." „Ruf mich an, wenn was ist, okay?" „Mach ich." Er schlendert zum Bus und ich bringe es über mich, das Haus zu betreten und den Polizisten gegenüber im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Hailey schnieft in ein Taschentuch, bevor Deputy Shoe, ein klein gewachsener Mann mit Schnauzer und grauen Haaren, zu sprechen anfängt. „Heute Morgen hat uns die ortsansässige Polizei aus Perth in Australien kontaktiert. Es geht um Ihre Eltern, Miss Harvelle. Auf der Baustelle, auf der Ihre Eltern eingesetzt worden sind, gab es einen Unfall." „Was für einen Unfall?!", entfährt es mir direkt. Mein Kopf steht kurz davor, zu explodieren. Sind sie tot? Verletzt? Schwer verletzt? Zur Hölle nochmal mit diesen scheiß Bullen! „Die genauen Ursachen sind noch nicht klar, aber es gab wohl einen Kurzschluss in der Elektrik, als Ihre Eltern im Gebäude waren." „Jetzt spucken Sie es endlich aus!", schreie ich und springe auf. „Alexandra", meint Hailey vorsichtig und greift nach meinem Handgelenk. „Das ist alles Bullshit! Sie können sich dieses Gerede sparen und einfach zur Sache kommen! Was ist mit ihnen? Sind sie verletzt?!" Shoe holt tief Luft. „Es gab eine Explosion. Soweit wir wissen, starb Ihr Vater noch an der Unfallstelle. Ihre Mutter liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Mehr ist uns bislang nicht bekannt." In diesem Moment begreife ich, was es bedeutet, wenn man sagt, die Erde steht für einen kurzen Moment still. Ich schwöre, es ist, als würden alle hier im Raum die Luft anhalten, aufhören, sich zu bewegen. Mein Hirn hat auf Leerlauf geschaltet. Die letzte Nacht ist fort. All die glücklichen Momente – fort. In mir breitet sich ein Schmerz aus, den ich bisher noch nicht kannte. Verlust. Und es fühlt sich an, als würde irgendwas in mir einfach eingehen und absterben. Mein Vater ist tot. Weg. Ich kann nie wieder mit ihm sprechen, werde ihn nicht mehr umarmen, nie wieder seine Stimme hören. Mit einem Fingerschnips ist er einfach nicht mehr in dieser Welt. Das Atmen fällt mir schwer, meine Kehle brennt, während ich zitternd Luft hole. „Miss Harvelle? Ich möchte Ihnen jetzt nicht zu nahetreten, aber Sie sollten Ihre Sachen packen und zu Ihrer Mutter fliegen." „Ich soll... Sie meinen, bevor sie auch noch stirbt?", antworte ich emotionslos. „Das wollte ich nicht damit..." „Deputy, Sie sollten gehen. Alexandra und ich müssen packen und das nächste Flugzeug erwischen", unterbricht Hailey ihn barsch und scheucht die Polizisten auf. Ich stehe einfach nur da. Taub. Kalt. In mir ist nur noch eine Leere, die sich ausbreitet wie ein schwarzes Loch. Wie in Trance gehe ich die Treppe hoch, merke nicht, wie Hailey immer noch an der Tür diskutiert. Ich kann das alles noch gar nicht begreifen. Ich bin vielleicht bald eine Vollwaise. Wie oft habe ich meine Eltern verdammt, gesagt, dass ich sie hasse, weil sie sich einen Dreck um mich geschert haben. Ist das Karma? Bekomme ich all das jetzt mit einem Schlag zurück? Ich steige unter die Dusche, das Wasser drehe ich auf kalt, sodass mich direkt eine Gänsehaut überkommt. Ich brauche das. Ich muss einen klaren Kopf bekommen. Hailey ist bereits jetzt am Ende und viel zu aufgewühlt. Einer von uns muss ruhig bleiben. Nachdenken, was jetzt das Beste ist. Natürlich werde ich mit ihr direkt nach Perth fliegen. Ich muss Gewissheit bekommen, was mit meiner Mutter ist. Ob sie eine Chance hat, das alles zu überleben oder nicht. Ich wasche mich gründlich und ziehe mich schließlich an. Ich höre das laute Rumpeln aus Hailey Zimmer und als ich hineinblicke, wirft sie sämtliche Sachen in einen Koffer. Sie schnieft wieder und wieder, scheint nicht zu wissen, was sie eigentlich braucht oder nicht. „Tante Hailey", sage ich und hocke mich zu ihr hinunter. „Du hast gerade gefühlt zehn Hosen eingepackt, aber nicht ein Oberteil", merke ich an. „Alex... es tut mir so leid! Das sollte dir nicht passieren. Es ist furchtbar!", schluchzt sie los und umarmt mich fest. Ich fühle mich überrumpelt, beinahe unbehaglich über diese überstürzte Nähe. „Tante Hailey... es geht mir gut", entgegne ich und sie starrt mich an, als hätte ich sie geohrfeigt. „Wie kannst du das sagen?! Dein Vater ist tot! Deine Mutter... meine Schwester liegt im Krankenhaus und könnte jeden Moment..." „Ich weiß! Aber... es bringt nichts, wenn wir beide jetzt durchdrehen. Wir müssen einen klaren Kopf bewahren." „Was ist mit dir los? Du stehst unter Schock, oder?" Sie rüttelt mich an den Schultern. „Alex, es ist okay. Du kannst weinen. Du..." „Ich packe meine Sachen und dann fahren wir", unterbreche ich sie, stehe auf und gehe in mein Zimmer. Ich hole meine Tasche heraus und packe organisatorisch alles ein. Hosen, Oberteile... aber nur für ein paar Tage. Ich weiß nicht, was mir bevorsteht, aber ich weiß mit Sicherheit, dass ich wieder zu den Outer Banks zurückkehren werde. Zurück zu John B und meinen Freunden. Ein schlechtes Gewissen packt mich. Er hat keine Ahnung. Ich kann nicht einfach fliegen, ohne... Was denke ich da? Ich werde zurückkommen! Wieso erschreckt mich der Gedanke, mich von John B und den anderen verabschieden zu müssen, mehr, als die Tatsache, dass ich meine Eltern vielleicht verliere? Ich bin ein Psychopath! So sieht's aus. Ich bin nicht mehr ganz dicht. Ich packe wutentbrannt meine Tasche und laufe hinunter zum Auto. Ich schmeiße sie auf die Ladefläche des Pick-Ups und lehne mich erschöpft an den Wagen. Mein Herz schlägt übernatürlich schnell, was mir erst jetzt auffällt. Vielleicht stehe ich tatsächlich unter Schock, wie Hailey meinte? Ich höre ihre Schlüssel klappern, als sie die Haustür schließt und ebenfalls den schweren Koffer auf die Ladefläche schmeißt. Wir steigen ein und ruppig fährt sie los. „Hast du deinen Freunden geschrieben?", fragt sie irgendwann in die Stille hinein. „Nein." „Das solltest du. Sie machen sich Sorgen, wenn du auf einmal verschwindest." „Ich komme wieder." „Alex... du machst mir Angst. Rede mit mir!", bittet sie. „Ich weiß nicht, was los ist. Es fühlt sich an, als wäre ich... taub. Erstarrt", versuche ich zu beschreiben. „Aber dennoch ist mein Kopf ganz klar." „Ganz klar, du hast einen Schock. Ich würde dir ja jetzt sagen, dass alles gut wird, aber dann würde ich uns beide anlügen. Dabei bin ich die Erwachsene. Ich muss mich um dich kümmern, nicht anders herum", wirft sie sich vor. „Du machst das großartig", beschwichtige ich sie, schaffe es aber nicht, dabei zu lächeln. Ich zücke mein Handy. Es zeigt bereits die Meldung, dass mein Akku fast leer ist. Ich tippe also nur eine Nachricht.

OUTER BANKS - Vor dem SturmWo Geschichten leben. Entdecke jetzt