Kapitel 1: Lieke

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»Hast du das verstanden, Lieke?«, erkundigte sich Pieter van Meer bei seiner Tochter. »Es hört sich vielleicht lästig für dich an, aber das ist wirklich wichtig.«
  Lieke, die auf einem ungemütlichen Holzstuhl, welcher vor dem Schreibtisch ihres Vaters stand, Platz genommen hatte, verdrehte die Augen. »Ja, ja.«
  »Wie war das?«, Pieter sah sie streng an.
  »Ich habe verstanden Vater«, sagte Lieke niedergeschlagen. »Trotzdem: Gerecht ist das nicht«, fügte sie dann doch noch leicht vorwurfsvoll hinzu.
  »Lieke.« Pieter seufzte. »Lass es mich bitte nicht bereuen, dass ich dich hierher mitgenommen habe. Du weißt, alles, was hier passiert, fällt gleich auf unser Land zurück. Also stell bitte nichts an und lass dich nicht auf irgendwelche Abenteuer ein.«
  Nun verdrehte Lieke doch die Augen. »Ich sitze also den ganzen Tag zuhause rum und warte bis du nach Hause kommst.«
  »Meine Kleine.« Pieter stand von seinem Platz auf und trat zu Lieke. Nur um sie auf die Füße zu ziehen und zu umarmen. »Dir ist doch klar, was für eine große Chance meine Arbeit hier für unsere Familie ist, oder?«
  Natürlich wusste Lieke das. Immerhin hatte ihr Vater ihr das inzwischen oft genug gesagt. »Ja.« Sie seufzte.
  »Na bitte.« Pieter lächelte. »Wie wäre es, wenn du Kanae fragst, ob sie dich auf einen Einkauf mitnimmt? Dann kannst du dich ein auf dem Markt hier umsehen. Vielleicht findet sie sogar einen Kimono für dich.«
  Bei dem Gedanken einen schönen Kimono zu kaufen, erhellte sich Liekes Stimmung ein wenig. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. »Einverstanden.«
  »Gut, das freut mich.« Pieter erwiderte das Lächeln und küsste sie auf die Stirn. Eine versöhnliche und äußerst väterliche Geste, zu denen er sonst nicht so oft neigte. Dann ließ er sie los.
  Lieke versank in einem ungelenken Knicks, dann wandte sie sich um und verließ das Büro.

Lieke gefiel es zwar nicht, dass sie die Insel Dejima nicht verlassen durfte, doch sie freute sich trotzdem, hier zu sein. Überhaupt hatte es sie alle überrascht, als ihr Vater vor ein paar Monaten ihren Bruder und sie zu sich rief, um ihnen zu verkünden, dass er ausgewählt wurde, um einer der niederländischen Handelsvertreter in Japan zu werden. Ihr Vater hatte zugestimmt: Unter der Bedingung seine Familie mitnehmen zu dürfen. Wenige Tage später hatte sich Lieke auf einem Schiff wiedergefunden. Vor zwei Wochen waren sie dann, nach einigen Monaten auf dem Meer, in Dejima angekommen. Aber auch wenn der Name ihrer Familie van Meer lautete, so war Lieke erleichtert darüber gewesen endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
  »Nicht von hier weg zu können ist trotzdem blöd«, grummelte sie unzufrieden vor sich hin und trat ungeduldig ein paar Steine zur Seite.
  »Wissen Sie, es hat ganz einfache Gründe, warum es Ihren Landleuten nicht gestattet ist diese Insel zu verlassen«, hörte sie jemanden mit ruhiger Stimme hinter sich sagen. »Wenn Sie wollen, erkläre ich es Ihnen.«
  Lieke drehte sich um. Vor ihr stand ein Japaner, der eine Art Rüstung trug. Sein schwarzes Haar war kurz und seine dunkelbraunen Augen sahen sie neugierig an. »Wer sind Sie?« Sie war so überrascht, dass ihr zuerst gar nicht auffiel, dass der Japaner sie auf Niederländisch angesprochen hatte.
  Er verneigte sich höflich vor ihr. »Yamamoto Ren, ist mein Name«, stellte er sich vor. »Sie müssen das junge Fräulein van Meer sein.«
  »Uh, ja so ist es.« Sie blinzelte irritiert. »Woher...?«
  »Woher ich das weiß?«, wollte Ren wissen. »Es wurde uns angekündigt, dass der neue Handelsvertreter, der hierher kommt seine Familie mitbringt«, erklärte er. »Sie scheinen direkt aus seinem Büro zu kommen, also war das naheliegend.«
  Lieke nickte langsam. Dann sah sie ihn noch einmal an. »Und Sie? Wer sind Sie?«
  »Das habe ich doch schon gesagt.« Nun war er es, der sie irritiert anblickte.
  »Nein, ich meine was ist Ihr Beruf? Sie sehen nicht aus wie ein Dolmetscher. Trotzdem sprechen Sie unsere Sprache.«
  Ren straffte kurz seine Schultern. »Sagen wir, ich bin geschäftlich hier in Dejima. Aber Sie haben Recht Fräulein van Meer, ich bin nicht hier, um zu übersetzen. Das werden andere übernehmen.«
  »Geschäftlich?«, wiederholte Lieke. »Was meinen Sie damit?«
  Rens Blick verfinsterte sich. »Das ist nicht wichtig. Zumindest nicht für Sie. Ich hoffe sehr, dass es dabei auch bleibt.«
  »Warum?« Lieke sah ihn an. Seine vage Ausdrucksweise hatte sie nur noch neugieriger gemacht.
  Ren schüttelte den Kopf. »Wie gesagt: Das sollte Sie nicht interessieren. Ihr Vater hat Ihnen doch sicher gesagt, dass Sie sich hier in Dejima nicht in die Angelegenheiten anderer einmischen sollten. Oder irre ich?«
  »Nein, tun Sie nicht.« Sie schüttelte den Kopf.
  »Dann hören Sie besser auf den Rat Ihres Vaters, Fräulein van Meer. Das wird nur zu Ihrem besten sein«, versicherte Ren ihr.
  »Aber-« Weiter kam Lieke nicht. Denn genau in diesem Moment zerriss ein schriller Schrei die Luft. So laut, dass man ihn vermutlich auf der ganzen Insel gehört haben musste.

Rens Gesicht, dass eben entspannt gewirkt hatte, hatte sich nun zusehends verfinstert. Seine Hand lag jetzt auf dem Griff des Katana, dass er an seiner Seite trug.
  »Was ist los?«, fragte Lieke.
  Ren antwortete nicht. Stattdessen fasste er Lieke am Handgelenk und zog sie mit sich.
  Zuerst dachte sie darüber nach, zu versuchen sich, aus seinem Griff zu befreien. Doch er umfasste er Gelenk so fest, dass ihr das wohl kaum möglich gewesen wäre. Also stolperte sie hinter ihm her.
  Es dauerte nicht lange, bis Lieke auffiel, dass Ren den Weg zurücklief, den sie vorher selbst gegangen war. Nämlich den, der sie direkt zu dem Hauptquartier der niederländischen Handelsgesellschaft führte. Gerade, als sie Ren wieder fragen wollte, was passiert war, blieb dieser stehen.

Menschen hatten sich versammelt. Viele Japaner, aber auch einige Niederländer konnte Lieke ausmachen. Das erkannte sie nicht nur an der Sprache, welche die Männer sprachen, sondern, vor allem weil sie von ihrem Vater erzählt bekommen hatte, dass die Niederlande die einzige europäische Nation waren, mit denen Japan Handel betrieb. Auch deshalb hatte ihr Vater ihr verboten, sich auf »irgendwelche Abenteuer« einzulassen. Doch dafür war es zu spät. Denn wie es aussah, war ihr genau das jetzt passiert.


Die Schatten von DejimaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt