In der Ferne rufen Raben I

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V trat aus dem Versteck der Diebe ins Freie. Das Haus stand inmitten eines Gartens, in dem hier und dort Büsche mit Blumen sprossen. Ein Steinweg führte sie zu einem hüfthohen Zaun und durch das Tor gelangte sie auf die Straße.

Das Versteck war in einem der weniger belebten, aber nicht heruntergekommenen Teile Cyrills errichtet. Die Menschen, die an dem Haus vorbeihasteten, beachteten sie entweder gar nicht oder schenkten ihr nur einen kurzen mürrischen Blick.

Das war sie also, die große weite Welt. Oder zumindest eine größere und weitere Welt, als V sie bisher gekannt hatte, und sie bemerkte schnell, dass ihr diese Stadt für den Anfang reichte.

Als sie mit Ejahl unterwegs gewesen war, hatte sie nicht erkannt, wie verwinkelt Cyrill war und wie gleich jedes Haus und jede Straßenecke aussah.

Binnen kürzester Zeit wusste sie schon nicht mehr, auf welchem Weg sie zurück zu dem Diebesversteck kam. Und nicht nur war sie in der Stadt vollkommen verloren, nein, Kälte lag in ihrem Nacken und verfolgte sie, als würde sie beobachtet werden. Jedes Mal, wenn sie sich aber umdrehte, war sie entweder allein auf der Straße oder nur wenige Menschen liefen an ihr vorbei und beschwerten sich, dass sie stehengeblieben war und den Weg blockierte.

Irgendwann kam sie in einer Gasse an, die der ähnlich sah, in der Ejahl und sie den Schlägern ausgewichen war. Oder es handelte sich um eine vollkommen andere, und V konnte die Straßen nur nicht auseinanderhalten, und ohnehin war sie nicht sicher, ob sie es als gutes Zeichen werten sollte, dass sie dort gelandet war.

Ihre Gänsehaut und das Gefühl, beobachtet zu werden, war nicht verschwunden und diese Gasse war vollkommen menschenleer.

Sie schluckte. Besser war es, sie kehrte um, ehe es zu spät war.

Ein Schatten stürzte in ihrem Augenwinkel vom Dach.

V entfuhr ein Schrei. Sie sprang zur Seite, wirbelte herum. Ihre Hand tastete nach dem Dolch, aber zu viel Stoff des Umhangs hinderte sie.

Rennen. Sie musste rennen.

Gerade als sie umkehrte und den ersten Schritt zur Flucht machte, erklang ein leises Lachen, das sie an Ejahls erinnerte und auch die Stimme, die folgte, erkannte sie.

»Tut mir leid, Chérie. Ich wollte dich nicht erschrecken.« Jeanne lehnte sich gegen die Häuserwand und drehte eine Münze in ihren Fingern, ehe sie diese in einer Tasche verschwinden ließ.

V wollte gar nicht wissen, von wem das Geld stammte.

»Ich dachte, vielleicht tut dir ein bisschen angenehmere – und hübschere – Gesellschaft ganz gut. Der alte Mann kann auf Dauer ziemlich anstrengend sein und dann noch der Rabe ...« Sie schüttelte den Kopf. »Wie hast du die beiden nur während der Reise ausgehalten? Ich hätte mich schon lange von denen getrennt.«

Dafür hätte V irgendeine Art von Orientierungssinn oder Plan oder die Fähigkeit, sich zu verteidigen, gebraucht.

»Und wer sollte diese angenehmere Gesellschaft sein?«, hakte V nach. Sie traute ihr nicht. Vielleicht war es die Tatsache, dass Jeanne eine Diebin war, vielleicht, dass sie V unweigerlich an Ejahl erinnerte und sie auch lieber mindestens eine Armlänge zwischen dem Meisterdieb und sich wusste.

Jeanne stieß sich von der Wand ab und kam auf sie zu, ihre Bewegungen glichen einer Raubkatze, die sich der Beute annäherte. Vor ihr blieb sie stehen, wahrte aber immer noch einen gewissen Abstand.

»Na, ich«, sagte sie und legte eine Hand unter ihr Kinn. »Und unansehnlich bin ich doch auch nicht, oder was meinst du?« Sie zwinkerte ihr zu.

Vs Augenbrauen hoben sich. Sie öffnete ihren Mund, um irgendetwas Geistreiches zu erwidern, bemerkte jedoch schnell, dass ihr aus dem Stegreif nichts einfiel, und schloss ihn wieder. Sie konnte sich vorstellen, dass Jeannes rehbraune Augen schon dem ein oder anderen den Kopf verdreht hatten, aber das würde sie ihr doch nicht eingestehen. Es beschlich sie das Gefühl, dass sie dann direkt in eine Falle tappen würde, aus der sie sich nicht eigenhändig befreien könnte.

The Tale of Greed and VirtueWo Geschichten leben. Entdecke jetzt