Kapitel 7

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𝕯ie Zeit rückte unaufhaltsam vorwärts und hinterließ in ihrem Fluss Spuren der Veränderung auf der Burg. Ob es nun mit meinen Einmengungen in die Taten der grófnő zu tun hatte oder aber dem Umstand, dass ich seit jüngster Zeit von vielen gemieden wurde, so verrichtete ich immerzu meine Aufgaben wie sie mir zugewiesen wurden und suchte weiterhin still nach dem, wofür ich hergekommen war.

An diesem Tag plante ich, für einige Zeit Burg Csejte zu verlassen. Ich konnte Frau Semtész dazu überreden, mich Gellért zum Markt begleiten zu lassen und so liefen wir mittags den Hügel hinab. Die warme Sonne tauchte den Nachmittag in ein sanftes Licht, in dem ich die Ruhe fand, meine Gedanken der vergangenen Tage und Nächte zu sortieren.

»Ich bin wirklich froh, dass wir doch noch eine Möglichkeit gefunden haben, dich für eine Weile aus dieser Burg zu holen«, sprach ein gutgelaunter Gellért.

»Ich ebenso«, erwiderte ich.

Ich hatte Gellért über meine Zusammenkünfte mit János und Katarína nichts erzählt. Er hatte die Ruhe darin gefunden zu glauben, dass ich als einfache Magd unbeachtet meinen Arbeiten nachging und wohl kaum von Interesse für die Burgherrin war. Er hatte durchaus recht. Das fehlende Interesse der grófnő, die Unverblümtheit ihrer Missetaten und der Freimut ihrer Diener verwirrten mich. 

Hatte ich mich noch sinnlich in der malerisch weißen Schneelandschaft vor mir verloren, bot sich mir nun ein Bild, das in mir die Nostalgie vergangener Tage erweckte. Die Gassen von Csejte waren erfüllt von allerlei Händlern, die ihre kostbaren Waren darboten. Straßenkünstler wanderten die Wege entlang und begleiteten das Marktgetümmel mit ihren Liedern; das Gelächter der Kinder und die Pferdehufen der positionierenden Wachen erfüllten das Marktorchester. Die Duftkomposition zahlreicher Speisen ließ meine Sinne aufleben und ich fühlte mich wieder von Lebendigkeit umgeben.

Gellért und ich hatten die Aufgabe bekommen, von der grófnő in Auftrag gegebene Gardinenstoffe und Kleider vom Schneider abzuholen. Die Tochter der grófnő, Anna, kündigte an, sie am Christfest besuchen zu kommen, weshalb nun allerlei Vorbereitungen für ihren Aufenthalt getroffen wurden. Ich wusste nicht viel von den Kindern der grófnő. Mir war aus Erzählungen anderer Dienerinnen bekannt geworden, dass sie sechs das Leben schenkte, allerdings schien sie diese vorwiegend vor den Augen des einfachen Volkes versteckt zu halten – so wie sich selbst. Ob ihr die vielen Erzählungen, die hier über sie erzählt wurden, bekannt waren, war mir ungewiss; sicher war jedoch, dass diese nicht grundlos zustande gekommen waren, denn sie stimmten: Die Burgherrin war eine Mörderin.

»Evièka!«, riss mich eine Stimme aus meiner Gedankenwelt. Es war die Stimme von keiner anderen als Ilka, die fröhlichen Gemüts zu uns hinüberlief und mich in ihre Arme schloss. Ihre Umarmung, die den Duft des mir bekannten Nadelholzes in sich trug, erinnerte mich an jenen Augenblick, als sie mir inmitten jenes dunklen Waldes durch ihre wärmenden Hände die Kälte aus den Fasern meines Seins nahm und mir die Geborgenheit schenkte, die ich vor langer Zeit zu verloren geglaubt hatte.

»Ich bin so froh, Euch wiederzusehen!«, erwiderte ich ihr mit einer festen Umarmung zurück.

»Wie ist es dir ergangen? Du musst mir unbedingt alles erzählen! Ach, ich hatte mir solche Sorgen um dich gemacht, Kind!«

Diese mit Wärme erfüllten mütterlichen Augen, die mich so liebevoll anblickten, erregten in mir ein Gefühl, das mich Tränen der Dankbarkeit vergießen ließ. So lange hatte ich nach dem Tod meiner Eltern geglaubt, nunmehr allein auf dieser Welt zu sein, dass ich nicht wusste, wie ich mit solch einer Zuwendung umgehen sollte. Obgleich meine Seele sich an der Quelle des Lebens mit unendlicher Liebe stillen durfte, so war es mein Leib, dem noch immer jene Liebe gefehlt hatte. Ilka bemerkte meinen unerwarteten Stimmungsumschwung und fragte besorgt: »Evièka? Kind, sag, was ist der Grund deines Wehmutes?« 

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