Das Heftchen

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Die Haustür schwang auf und zum Vorschein kam eine große, schwere Frau, die neun Jungs und zwei Mädchen zur Welt gebracht hatte. Ihr von elf Schwangerschaften verzerrter Körper füllte den gesamten Türrahmen aus. Barfüßig, mit angeschwollenen Knöcheln, stand sie vor uns und schwieg. Das blass senfgelbe, sonnengebleichte Baumwollkleid war hüftaufwärts zwischen Bauchfalten und unter ihrer rechten wie ein Mehlsack hängenden Brust eingeklemmt, als versuche, der ein Leben lang nach Nährstoffen gierende Körper alles, was mit ihm in Berührung kommt, zu verschlingen.
„Hallo, ist Waldemar da?"
Waldemars Mutter drehte sich mit stampfenden Schritten um die eigene Achse und rief die Treppe rauf den Namen ihres Sohnes, bevor sie wieder in der Dunkelheit des Hauses verschwand.
Oben, zwischen den Geländerstangen tauchte ein blonder Haarschopf auf.
„Ach, ihr seid's!", sagte Waldemar und sprintete, ebenfalls barfuß, zu uns herunter.
„Können wir uns das Heftchen ausleihen?"
Das Heftchen waren sechs lose Bögen aus einem alten Pornomagazin, die durch hunderte Hände in unserer Straße gegangen waren und etwas aneinander klebten, als Waldemar sie uns reichte. Wir versprachen ihm, sie in ein paar Stunden zurückzubringen.
Seitdem Dennis' Vater das Versteck des mit Gina Wild besetzten Erwachsenenfilms auf VHS gewechselt hatte, harrten wir mehrere Wochen darauf aus, bis das Heftchen bei Waldemar wieder angelangt war, ohne dass es uns der nächste vor der Nase wegschnappte.
Das Haus, in dem Waldemar wohnte, war das letzte in der Neubausiedlung und markierte das Ende unserer Straße. Dahinter lag der Bolzplatz und die Chance, unsere Sommerferien auf diesem zu verbringen, bot sich uns dieses Jahr ein letztes Mal, denn in wenigen Monaten würde der Rasen, auf dem wir unsere Kindheit verbracht hatten, asphaltiert und zugepflastert werden. Doch noch war es nicht so weit, noch wurde hier nicht gebaut, noch war Waldemars Haus die Grenze unserer Siedlung, hinter der saftgrün der Roggen stand, dessen Fruchtkörper in den Ähren gerade erst zu reifen begannen.
Hinter dem Bolzplatz bogen wir von der Landstraße ab und wateten mitten durch das Roggenfeld. Die Ähren kitzelten an unseren nackten Beinen.
„Das reicht."
„Lass uns noch ein bisschen weiter rein."
Wir traten die Halme zu einer kreisförmigen Fläche fest und hockten uns hin. Versteckt wie zwei Kitze. Vor uns eine grüne Mauer, über uns eine blaue Kuppel. Wir saßen Rücken an Rücken, mit ausgestreckten Beinen und hinuntergelassenen Hosen. Zwischen uns das Heftchen. Ich spürte jede von Dennis' Bewegungen. Er war kleiner und schlanker als ich, und als er kam, nachdem ich bereits fertig war und auf ihn wartete, spürte ich, wie sich seine Rückenmuskulatur anspannte und er seinen Hinterkopf in meinen Nacken drückte, bis unter Zucken und Zittern die angeschwollenen Muskeln wieder erschlafften.
Dennis warf das zerknäulte Papiertaschentuch zu den anderen Knäuel, stemmte sich mit den Händen für eine kleine Drehung auf und ließ sich rücklings fallen.
„War das geil!"
Die Wangen seines runden Kopfes hatten sich gerötet und ein kleines Schweißrinnsal verlief von der Schläfe in den Nacken. Mit zwei schmutzigen Finger kratze er an einem entzündeten Pickel am Kinn und schob sich dann die Hände unter den Hinterkopf. Seit dem wir vor zwei Monaten angefangen hatten im Jugendtreff Gewichte zu heben und ihm als ersten von uns beiden dünnes Achselhaar gewachsen war, trennte er sich bei mindestens der Hälfte seiner T-Shirts die Ärmel ab. So lagen seine Oberarmmuskeln wie Würstchen auf dem grünen Roggen.
Als ich mich hinlegte, sprang Dennis auf. Über dem Boden hing der Geruch von warmem Sperma.
„Meinst du, es tut weh, wenn ich mich fallen lasse?", fragte Dennis.
Hinter ihm wippten ein paar Halme und schaukelten das Feld zu einer kleinen Welle an.
„Bestimmt."
„Ich mach ja kein Köpper, ich will mich einfach nach hinten fallen lassen."
„Trotzdem."
Ich stand auf. Der Roggen reichte mir bis zur Hüfte.
„Komm, wir machen diese Vertrauensübung!", sagte er, „Wo einer hinter dem anderen steht und den fängt."
Dann sollte er aber auch beginnen!
Ich fing ihn und meine beiden Hände rutschten in seine verschwitzten Achselhöhlen.
„Komm, jetzt du!"
Eigentlich wollte ich es ja gar nicht.
„Komm, ich hab's auch gemacht!"
Als ich über die Schulter guckte, stand er da im Ausfallschritt mit angewinkelten Armen, vollkommen überzeugt von dem, was er tat.
Ich schaute wieder nach vorn. Am Horizont lag Waldemars Haus, irgendwo weiter hinten war auch mein Zuhause, mit dem Zigarettenautomaten davor, an dem wir immer zählen mussten, wenn wir in unserer Straße Verstecken gespielt hatten, die Straße, die vom Fußballacker bis direkt zum Kindergarten führte, in dem Dennis und ich uns kennengelernt hatten. All das, die gesamte Siedlung sank unter, wurde vom Blau des Himmels nach unten gedrückt, als ich mich fallen ließ und für den Bruchteil einer Sekunde mir sicher war, dass ich einfach fallen werde, dass mich niemand auffangen wird und ich nicht einfach auf dem Boden des Roggenfelds lande, sondern in einen endlosen Abgrund hinein stürze. Doch schon hakten sich Dennis' Hände ein und bremsten meinen Körper, sodass ich knappe zehn Zentimeter mit dem Hintern über der Erde hingen blieb. Er setzte mich ab und wir lachten.
Als wir das Heftchen seinem Besitzer zurück geben wollten, war es die kleine Schwester, die uns die Tür öffnete. Ihr blondes Haar war ungekämmt und ölig.
„Waldemar ist nicht da!", sagte sie in hohem, nasalem Ton, „Waldemar ist in der Schule!"
Wir sagten, es sei Sonntag.
„Ich geh auch bald in die Schule!"
Sie hätte Marmelade im Gesicht, sagte ich ihr.
„Und du hast Pickel im Gesicht!"
Doch damit konnte sie mich nicht kriegen, denn tatsächlich war ich immer sehr stolz darauf, von dieser Nebenwirkung der Pubertät verschont geblieben zu sein, fühlte mich sogar den anderen in meiner Klasse, samt Dennis, deren Gesichter sich in eine Mondlandschaft zu verwandeln drohten, auf eine eitle Weise überlegen.
„Doch hast du wirklich!", sagte Dennis.
Ich fuhr mit der Handfläche über meine Wangen, doch konnte keine Erhebungen ertasten.
„Auch auf dem Arm!"
Ich riss die Finger vom Gesicht und betrachtete den Arm. Er war übersät mit roten Pusteln und während ich zusah, tauchten immer mehr Punkte auf, die zu größeren Flecken zusammenwuchsen. Und an den Beinen erst - sie waren überall!
„Scheiße, was ist das?"
Doch sie lachten nur, die Kleine im Türrahmen hielt sich gekrümmt den Bauch:
„Pickelgesicht, Pickelgesicht!"
Ich sagte ihr, dass Erstklässler an ihrem ersten Schultag von den Älteren in die Mülltonnen gesteckt werden würden und dass es mal ein Mädchen gegeben hätte, das man so tief in die Tonne gedrückt hätte, dass sie nie mehr rausgekommen wäre und hätte verhungern müssen, noch bevor sie gelernt hatte, wie man das A schreibt.
„Meine Brüder stecken dich in den Müll!", sagte sie und knallte die Tür zu.
„Was machen wir jetzt damit?", holte ich die zerfledderten Seiten hinter mir hervor.
„Egal, ich geh nach Hause."
„Nimm die mal mit!"
Dennis ignorierte mich und ging weiter.
„Komm schon!"
Wir standen bereits vor dem Mehrfamilienhaus, in dem er zusammen mit seinen Eltern wohnte. Er kramte den Wohnungsschlüssel aus den Basketballshorts hervor.
„Siehst du, du hast sogar einen eigenen Schlüssel und kannst reinschleichen und es verstecken, und ich muss klingeln bei uns!"
„Du hast es doch schon in der Hand, also nimm es einfach mit!", sagte er und ließ mich vor dem Haus stehen.
Ich schaute auf meine Unterarme, die mittlerweile nicht nur rot waren, sondern auch umso stärker juckten, je mehr ich kratzte. Mir tränten die Augen und ich konnte nicht richtig atmen. Ich zog mein T-Shirt hoch und klemmte das Heftchen unter die Shorts.

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