Sie beide waren still und obwohl sie nicht gerannt waren, keuchten sie schwer. Ihr kondensierender Atem gefror in der Luft, schwebte davon und löste sich irgendwo im Horizont auf, um nie wiederzukehren. Sie starrte ihm in seine braunen, lebhaften Augen und obwohl ihre so stumpf grün waren, erzählten sie von den überdauerten Jahrhunderten, Kriegen und Leid der Menschen. Er sah nur einen Willen in diesen matten Fenstern, der Grund warum ihre gemeinsame Zeit begonnen hatte: Der Wille erlöst zu werden. Es fühlte sich so an, als wäre es jahrelang her, als sie ihm von ihrer ganzen Geschichte erzählt hatte, doch war es nur gestern gewesen. Sie konnte sich nicht einmal an ihr ganzes Leben erinnern. Ihre Erinnerungen hatte sie ihm aber mitgeteilt. Zusammengesunken in einer Ecke des morschen Kellers hatte sie gesessen, ihre Flüstern so leise, dass es ein Windhauch hätte sein können: „Die ältesten Fetzen sind aus dem Zeitraum von 1618 bis -48. Ich habe seit dem Internet in bisschen recherchiert..." Sobald sie das Datum erwähnt hatte, zitterte ihre Stimme heftig und ihr Atem wurde schneller. „Das Einzige an das ich mich erinnern kann sind ein paar Gesichter und Szenen. Erst ein altes Gesicht einer Frau, welche mich liebevoll anschaut. Ein Blitz und sie ist ausgemergelt und fast schon am Ende. Als Nächstes... als Nächstes folgt ein Donner... und sie ist blutüberströmt und weint, schreit mir zu dass ich wegrennen soll. Meine Beine sind zu kurz, ich falle oft in den Schlamm, stehe auf und renne. Ich höre ein Kind weinen, ich bin es selbst. Immer wieder stürze ich, doch ich gebe nicht auf. Was mich antreibt ist nicht Hoffnung, doch Verzweiflung. Tiefe Verzweiflung und Angst. Während ich also renne, taucht ein nächstes Gesicht vor mir auf. Ein Junge, um die 16 Jahre. Er trägt eine Uniform und lächelt mich an, dann kommt der Donner wieder, diesmal mit lautem Gelächter. Der Junge... Er.." Ihre immer schneller werdende Stimme bricht und sie hustet, atmet schneller und erzählt weiter: „Er schaut auf mich hinab. Sein Gesicht starr, bleich und geprägt von Schmerzen und Panik. Ich will ihn berühren, seine Schmerzen lindern, doch er ist zu hoch. Langsam bekomme ich Angst, er könnte an den Schmerzen sterben und schreie um Hilfe. Ich schreie und schreie, keinen interessiert es. Chöre von Wehklagenden fangen an zu singen, obwohl ich sie nicht sehe, sie sind da. Erneut versuche ich die herabbaumelnde Hand des Jungen zu greifen, doch ich bin zu klein. Er baumelt immer höher, immer mehr Jungen, Frauen und sogar Kinder hängen wie reife Früchte an dem Baum, doch außer seinem Gesicht erkenne ich keines, alle anderen sind abgewandt und schwingen mit dem starken Wind. Die letzten Gesichter sind alles lachende Gesichter. Sie lachen grausam und ekelerregend, als sie mich immer wieder umbringen. Immer wieder, auf verschieden Weise - durch Messer, durch Gewehre, vor einer Armee an einem Baum, in meinen Kopf, durch mein Herz, meine Kehle aufgeschlitzt - und immer sterbe ich voller Angst." Nach diesem Abschnitt ihrer Geschichte beruhigte sie sich wieder, machte weiter mit den 400 Jahren ihrer Geschichte, zerfetzt in kleine Bruchstücke. Sie erzählt ihm alles, nur die Zeit um den zweiten Weltkrieg lässt sie unkommentiert, bis auf ein paar wenige Sätze: „Schleimige Haare, verzogenes Gesicht und ein schwarzes Herz, dieser Hitler. Ich verbrachte eine längere, unbestimmte Zeit in so einem ... Lager. Immer roch es nach gebrannten Mandeln, die doch Menschen waren und reihenweise sind die leichenstapelnden Leute umgekippt. Erschossen wurden die eigenen Leute, verehrt ein Psychopath mit lächerlich viel Macht, schwachsinnigen Zielen und großen Problemen." Und so verbrachten sie den Abend und die ganze Nacht damit, zu frieren und irgendwo in ihrer Geschichte einen Sinn, einen Auslöser für ihr Schicksal zu finden. 33 Stunden später standen sie also auf dem Dach irgendeines Wolkenkratzers, irgendwo in New York und sein Kopf schmerzte immer noch vom Jetlag. Er reichte ihr die zerdrückte Plastikflasche mit der Chemikalie. Als sie sie jedoch sicher festhielt, wollte er nicht loslassen. Er konnte nicht, es schien unmöglich. Doch er schaffte das Unmögliche, seine von der Kälte und Angst vor dem bevorstehenden Ereignis verkrampften Finger öffneten sich langsam. Sie schaute ihn an, lächelte matt und meinte: „Du bist der erste Mensch in meinem Leben, der mir jemals so viel bedeutet hat. Ich vertraue dir und deinen Fähigkeiten, Ben." Ihre Worte trafen ihn wie einen Schlag und die Welt blieb stehen. Wie in Zeitlupe ging die Sonne vor ihnen auf und orange-rotes Licht spielte auf ihrem Gesicht, als sie die Flasche öffnete, ihm ein letztes Mal die Hand auf die Schulter legte und die durchsichtige Flüssigkeit hinunterkippte. Nicht ein einziger Muskel regte sich in dem Gesicht der scheinbar Jugendlichen, als sie die Augen aufriss und hustete, jedoch stehen blieb. Sie würgte, spie Blut und Mageninhalt aus. Eine Pfütze aus Magensäure, Blut und halbverdautem Ei mit Bacon breitete sich auf dem Beton des Daches aus, als Ben anfing zu weinen. Er war glücklich darüber, dass sie noch lebte, aber er wollte nichts anderes, als sie davon zu erlösen. Er konnte es nicht ertragen, dieses stille, stumpfe Leiden in ihren Augen zu sehen. Ihre Wut, ihre freche Art zu reden, ihre sonstige menschliche Kälte waren alles Folgen andauernden Leidens, welches sie seit Jahrhunderten mit sich herumschleppte. Sie wischte ihren Mund ab und schaute Ben an. Ihre Mundwinkel zuckten als ihre Augen wässrig wurden. „Ben... Es hat nicht funktioniert." Der Satz hing in der Luft, ein Schlüssel für ein Schloss. Sie fing an zu weinen, Flüsse von den Tränen spülten die letzten Reste des Übergebenen auf ihrem Gesicht weg. „Ben, es hat nicht funktioniert." Sie stolperte in seine Arme, schluchzte und wimmerte immer wieder denselben Satz: „Es hat nicht funktioniert, Ben, es hat nicht funktioniert, wieso? Wieso ich, Ben?" Er wusste keine Antwort, also streichelte er ihren Rücken und ihren Kopf, während er mit ihr schluchzte. Wieso hatte er versagt? Wieso konnte er ihr einfach nicht helfen? Warum war er so unfähig wenigstens einer Person zu helfen? Die Sonne fing an stärker zu scheinen, immer noch in einem sanften Orange, welches sich in ihren blonden Haaren einfing. Es waren wohl mehrere Stunden, während sie dort saßen, bis irgendwann der Mann kam. Er hatte die beiden schon so lange verfolgt, dieses Mädchen war sein Ziel. Seine Truppe folgte ihm, als er geradewegs auf die versunkenen Gestalten in der prallen Sonne zulief. Sie lag auf dem Boden, er auf seinen kniete vor ihr und umarmte ihren schlaffen Körper. „Ist sie tot?" Der Mann wusste, wie unlogisch die Frage in diesem Moment war, natürlich war sie nicht tot. Doch hatte sich ein kleiner Funken Interesse in ihm geregt, ob die Jugendlichen Erfolg gehabt hatten. Ben blickte auf, seine Tränen waren schon lange getrocknet. „Mister," seine Stimme brach ab, um nur noch heiser fortzufahren," Sie ist gebrochen. Sie hat aufgegeben." Der Mann wich ein paar Schritte zurück, doch merkte er dies und räusperte sich. Er setzte ein Grinsen auf und gab dem Trupp einen Wink, das Mädchen festzunehmen. Als der Mann sich wieder den Jugendlichen zuwandte, starrte der Junge schon wieder auf das Mädchen, welches wie leblos in Embryostellung auf dem Boden kauerte. Die Männer hoben das Mädchen hoch, welches sich nicht einmal mehr wehrte. Auch Ben ließ sie ohne Widerstand gehen. Der Mann und der Trupp ließen Ben alleine auf dem heißen Dach zurück. Das Einzige, das er noch von ihr sah, war ihr starrer Gesichtsausdruck, als noch einzelne Tränen ihre Wange hinunterliefen. Dann wurde sie von dem Rücken des Mannes verdeckt. Dieser starrte sie an. Doch diese schien wie tot, nur das leichte Heben und Senken ihres Brustkorbes verriet, dass sie noch am Leben war. Er öffnete also die Tür und nahm einem seiner Männer das Mädchen ab, der Rest sollte sich doch noch um den Jungen kümmern, er würde noch als Zeuge gebraucht. Als er also die Treppe hinabstieg, das federleichte Mädchen in den Armen, fühlte er keine Erleichterung. Erleichterung nach einem absolvierten Fall erfuhr er nie. Denn immer blieb etwas von dem Leid, der Geschichte und den schrecklichen Szenen in ihm hängen. Er dachte über dieses Schicksal eines Ermittlers nach, während den nur durch kleine Fenster erleuchteten Flur schritt. Er stand schon an der nächsten Tür, als er einen Windhauch hörte: „Mister,ich habe überlebt, aber ich lebe nicht mehr."
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Gnadentod
Historia CortaEin Akt, aus Gnade vollzogen und in Menschlichkeit verfehlt.