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Annalena

Lara war noch bis zur Kaffeezeit geblieben und wir hatten noch ein wenig Memorie gespielt. Der Regen sorgte dafür, dass wir draußen nicht wirklich etwas machen konnten. Jetzt war ich wieder mit Fritz alleine, weil Lara zu ihrem aktuellen Freund gefahren war.
Als erstes setzte ich mich aufs Sofa und hörte mir die Nachricht von Wincent an. Irgendwie machte es mich traurig, dass er nicht mehr in Berlin war. Aber die Aussicht darauf, heute Abend wieder seine Stimme hören zu können stimmte mich wieder etwas fröhlicher. Damit ich es nicht vergaß, antwortete ich ihm direkt.
„Moin, wie man in meiner alten Heimat sagt. Grüß Hamburg von mir. Ich freue mich jetzt schon auf unser gemeinsames Abendessen, wenn du wieder in Berlin bist. Und irgendwann müssen wir mal zusammen in Hamburg Fischbrötchen essen. Hab ich seit meinem Umzug nach Berlin nämlich nicht mehr gemacht. Ich werde ab morgen auch endlich wieder arbeiten gehen. Dir viel Spaß oder Erfolg, was du brauchst, und bis heute Abend."
Danach ließ ich mein Handy Spotify öffnen und über meine Anlage im Wohnzimmer Musik abspielen. Natürlich fing mein Shuffle-Modus mit ‚Auf halbem Weg' von Wincent an und irgendwie hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich den Song verstand. Und mein Herz wünschte sich, er würde diesen Song nur für mich singen.

Ich sitze auf dem Sofa, Wincent neben mir und ich spüre seinen Blick auf mir. Er spielt einige Töne auf der Gitarre an, manche mehrmals und sie klingen immer anders. Er stimmt sie kurz, erklärt er mir. Dann raschelt es ein wenig und schließlich ist Stille. Ich schaue in die Richtung, in der ich ihn vermute und warte gebannt.
Ich höre die ersten Akkorde auf der Gitarre und dann seine Stimme. Mit so viel Gefühl, wie ich es bisher noch nicht gehört habe, singt er den mir altbekannten Text. Es ist, als würde ich den Song zum allerersten Mal hören.
„Aus ‚ab und zu mal schreiben' wurde ‚über Nacht bleiben', ich lieg hier in deinem Arm, yeah. Aber aus meinem Schweigen hörst du manchmal noch Zeilen, die ich so gar nicht sag und vielleicht liegt's daran, dass es alles so neu ist, noch ein bisschen verträumt ist zwischen dir und mir, zwischen dort und hier. Ich will nur, dass du weißt, was mir das alles bedeutet. Denn wir sind schon auf halbem Weg, ich kann uns fast schon sehen. Komm, halt dich an mir fest, wenn wir jetzt von hier weitergehen. Wir sind schon auf halbem Weg, ich kann uns fast schon sehen. Ich will, dass nichts von dem, was wir haben, verloren geht. Auf halbem Weg."

Eine nasse und leicht raue Hundezunge an meiner Wange riss mich aus dem Traum. Offenbar war ich kurz eingenickt und Fritz weckte mich jetzt. Vermutlich wollte er kuscheln oder Futter haben.
„Na du? Fühlst du dich vernachlässigt?", fragte ich und kraulte Fritz hinter den Ohren.
Er legte seinen Kopf auf meinen Schoß und ließ sich weiter verwöhnen. Ich hörte immer wieder seinen Schwanz auf die Couch schlagen.
Während ich ihn streichelte, wanderten meine Gedanken unwillkürlich wieder zurück zu Wincent. Bisher gab es immer nur Fritz als den tollsten, lieben und treuesten Mann bisher. Und jetzt kam Wincent, der mich komplett verwirrte und mir Schmetterlinge in den Bauch zauberte.

Wincent

„Okay, okay. Jetzt nochmal langsam", unterbrach mich Johannes.
„Kommt der alte Mann nicht mehr hinterher?", neckte ich ihn.
„Halt die Klappe! Du bist immerhin auch schon dreißig."
„Ist mir nicht entgangen", erwiderte ich.
Mein Handy gab einen Signalton von sich und ich warf einen Blick aufs Display. Eine neue Nachricht von Anna. Also nicht meine Managerin, sondern die Frau, über die Johannes und ich gerade redeten.
„Winnie?"
„Ja?" Ich löste meinen Blick vom Display und sah wieder Johannes ein.
„War sie das?"
„Ja."
„Und? Was schreibt sie?"
„Nichts", antwortete ich wahrheitsgemäß.
„Das glaub ich dir nicht. Nun erzähl schon."
„Hast du Demenz oder mir nur nicht zugehört?", fragte ich.
„Hä?"
„Sie schreibt nicht, weil sie die Buchstaben gar nicht sehen kann. Sie ist blind. Wir schicken nur Sprachnachrichten."
„Ich brauch erst einmal noch ein Bier", meinte Johannes und orderte Nachschub.
„So und jetzt nochmal für mich zum Mitschreiben... Dabei hab ich gar keinen roten Stift für die Kreuze im Kalender. Naja, egal." Johannes wusste ganz offensichtlich nicht, was er mit den ganzen Infos anfangen sollte.
äIch fasse die wichtigsten Sachen nochmal langsam für dich zusammen, ja?", lachte ich, denn so hatte ich Johannes noch nie erlebt.
„Ja, bitte."
„Also, ich habe eine blinde Frau kennengelernt. Sie heißt Anna und ihr super süßer Hund heißt Fritz."
„Soweit bin ich noch mitgekommen, ja. Und jetzt?"
„Jetzt schreiben wir beziehungsweise schicken Sprachnachrichten und wenn ich wieder in Berlin bin, gehen wir hoffentlich Abendessen."
„Okay." Johannes nahm erst einmal einen Schluck von unserem gebrachten Bier. „Und was willst du? Ich meine so perspektivisch."
Ich dachte einen Moment nach. Was wollte ich? Also außer irgendwann einer eigenen Familie. Konnte ich das mit Anna? Und sollte ich das jetzt schon entscheiden, wo ich quasi nichts von ihr wusste? „Das weiß ich noch nicht", gab ich zu. „Erst einmal will ich schauen, wohin das führt. Ich meine, wir haben uns erst einmal getroffen und da hatte ich abends noch eine Verabredung mit Amelie und Mats, die ich fast verpennt hätte."
Johannes grinste. „Da hast du doch schon deine Antwort, oder?"
„Hä?" Jetzt war ich verwirrt.
„Naja, wenn du eine Verabredung fast verpasst, weil du mit ihr zusammen bist, dann heißt es doch, dass du mehr willst. Also irgendwann."
„Weißt du, wie oft ich Termine verpenne?"
„Zu oft, wenn du dein Team nicht hättest. Ich weiß. Aber trotzdem. Hättest du Amelie und Mats abgesagt, um mehr Zeit mit ihr zu haben?"
„Ja", antwortete ich automatisch. „Obwohl ich so etwas nie mache."
„Das ist mir bewusst, aber wenn du die Wahl gehabt hättest, wärst du bei Anna geblieben, oder?"
„Das weiß ich nicht so genau. Eine Unbekannte statt meiner besten Freundin?", hakte ich skeptisch nach.
„Ja. Irgendwas scheint sie ja an sich zu haben, so wie du drauf bist."
„Schon. Ich mag sie, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Zeit mit Amelie gegen Zeit mit Anna tauschen würde."
„Man, Winnie. Nur rein hypothetisch. Meinetwegen nimm nicht Zeit mit Amelie, sondern mit keine Ahnung. Deiner Steuerberaterin."
Ich grinste. „Johannes, ich würde sogar lieber Zeit mit Krokodilen verbringen als mit meiner Steuerberaterin. Das ist kein gutes Argument."
„Brauchst du denn Argumente? Reicht nicht dein Herz?"

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt