72. Kapitel

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And nobody's coming to help ~ As It Was (Harry Styles)

Was zum Teufel war ein Ergebener? Die Wachen? Vier Stück lösten sich von ihren
Plätzen, wo sie stumm gewartet hatten und kamen auf uns zu. Dieser leere Blick und ihre synchronen Bewegungen machten mir Angst.
Als einer der Männer nach meinem Arm griff, schrie ich entsetzt auf. Seine Finger waren dünn wie Knochen und die Haut so trocken, dass Hautschuppen auf den glatten Boden rieselten. Die Fingernägel waren gesplittert. Um sie herum blutete der Mann.

„Fasst sie nicht an!“, fuhr Benjamin die Wachen an. Er zog mich zu sich und zusammen stolperten wir in das leere Zimmer zurück. Die Wachen schlossen mit einem lauten Knall die Tür. Keine zwei Sekunden später hörte ich, wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Wir waren gefangen.

Ich ließ mich kraftlos auf den Boden sinken. Gefangen im Schloss einer Wahnsinnigen. Benjamin setzte sich neben mich und schob mir nach einer Weile des Schweigens das Tablett rüber, das der Wachmann gebracht hatte. „Iss was. Es ist schon echt spät.“
„Wieso? Wie spät denn?“, fragte ich verwirrt.
„Einundzwanzig, vielleicht auch schon zweiundzwanzig Uhr. Du warst so gut wie den ganzen Tag nicht ansprechbar.“

Ich starrte ihn fassungslos an.
„Das … ist krass“, brachte ich heraus. Benjamin nickte. „Du hättest dich mal sehen müssen. Dein Kopf war so blau, dass man meinen könnte, du wärst ein Alien, als wir hier angekommen sind." Wir schwiegen eine Weile. Schließlich durchbrach ich die Stille und fragte: „Was ist eigentlich passiert, nachdem uns der Drache geschnappt hat?" Er fuhr sich übers Gesicht und lehnte sich gegen die Wand. Plötzlich merkte ich, dass er ziemlich müde aussah. Ich wollte gerade vorschlagen, dass er mir morgen alles erzählte und wir lieber schlafen sollten, als er antwortete.

„Der Drache ist mit uns direkt bis vor das Schloss geflogen. Dort hat er uns dann abgesetzt und du wurdest von zwei Wachen reingetragen. Mir haben sie die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden und mich hinter dir her geschubst. Das Schloss ist riesig! Der Weg in dieses Zimmer hat acht Minuten oder sogar noch länger gedauert! Na ja, als sie uns dann hier alleine gelassen haben, habe ich gewartet. Darauf, dass du wieder aufwachst, dass das vorbeigeht und dass jemand kommt. Nach ein paar Stunden hat tatsächlich jemand die Tür aufgemacht. Der Wachmann hat mir ein Tablett hingestellt und ist wieder gegangen. Eine halbe Stunde später hat er es wieder geholt. Und dann bist du irgendwann aufgewacht."

Ich überlegte kurz. „Hast du auf dem Weg hierher irgendetwas bemerkt? Irgendeinen Hinweis darauf, wo sich Marie und die anderen befinden?" Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Nein. Das einzige, das mir aufgefallen ist, war unser Zeichen, eine Samaluna, das durchgestrichen war. Aber das waren wohl kaum unsere Freunde."
„Nein. Klingt eher, als hätten die Leute hier was gegen uns. Wer hätte es gedacht?" Wieder schwiegen wir.

„Aber sag mal ... Ist unser Nachname wirklich Samaluna?", fragte ich.
„Du, Enya und unsere Eltern heißen so, das stimmt. Venia und ich heißen Tersk mit Nachnamen."
In meinem Kopf ruckte es. „Venia ist mit dir verwandt?" Benjamin nickte. „Jap. Sie ist meine ältere Schwester, von der ich dir erzählt habe."
„Das macht Sinn. Ihr habt die gleichen grünen Augen." Jetzt lächelte er. „Und du hast die gleichen schwarzen Haare wie Papa."
„Das ist wohl so."

Ich wandte den Blick ab, da ich nicht über meine Eltern sprechen wollte und beschloss, mich an das Essen auf dem Tablett heranzuwagen, das immer noch vor mir stand. Misstrauisch nahm ich ein Stück Brot in die Hand. Beschmiert war es mit Honig. Und ohne Butter. Hätten sie nicht zumindest Butter draufmachen können? Vorsichtig biss ich ab. Und verzog augenblicklich das Gesicht. Das schmeckte einfach nur fürchterlich! Staubig, alt und irgendwie verschimmelt. Trotzdem würgte ich den Bissen hinunter. Ohne Essen würde ich keine Kraft haben. Und ohne Kraft würde ich Marie nicht befreien können.

„Haben sie dir eigentlich erklärt, warum sie dich weggegeben haben?“, fragte Benjamin. Ich sah auf den Boden. „Ja, sie sagten, sie wollten nicht, dass mir etwas passiert. Sie wollten mich in Sicherheit wissen, weil sie glauben, dass ich bei dem Kampf sterben werde. Aber mal ehrlich. Mit den Kräften, die ich zusätzlich habe und dieser Kampfmaschine, die da irgendwo in mir ist, kann ich eigentlich gar nicht sterben. Ich werde schon nicht tot am Boden liegen. Oder?“ Benjamin schwieg. Ich konnte erkennen, dass er nachdachte. Es war, als suchte er nach einer Antwort, die irgendwo in seinem Kopf vergraben war.

Mein Essen rührte ich nicht mehr an. Egal, ob ich Kräfte brauchte. Dieses Brot war nicht mehr gut.
„Lass uns schlafen gehen. Es wird uns guttun, mal früher ins Bett zu kommen“, meinte Benjamin noch immer nachdenklich. Ich nickte. Sein Verhalten irritierte mich. Wir zogen die Matratze aus dem zusammengebrochenen Bett hervor und legten sie an die Wand. Wir ließen uns auf sie sinken. Mit dem Gesicht war ich der Wand zugewandt und hinter mir umarmte mich Benjamin. Ich spielte mit den Fingern der Hand, mit der er mich umarmte.

Obwohl ich eigentlich sofort hätte einschlafen müssen, gelang es mir nicht. Benjamins Gedanken schienen zu laut zu sein. Ich spürte förmlich, wie sie in seinem Kopf Samba tanzten und sich immer schneller bewegten. Was war mit ihm los? Was hatte ihn so aufgewühlt? Meine Augenlider, mit denen ich die kahle Wand anstarrte, wurden trotzdem immer schwerer. Irgendwann schloss ich sie und fiel in einen unruhigen Schlaf.

Als ich aufwachte, tat mein Rücken weh. Diese bescheuerte Matratze! Ich setzte mich auf und rieb mir über das Gesicht.
„Guten Morgen.“ Mein Kopf fuhr in die Richtung, aus der die Stimme kam und ich entdeckte Benjamin, der an der gegenüberliegenden Wand saß und mich ansah.

„Morgen“, sagte ich. Das Gut verkniff ich mir. Der Morgen war nicht gut. Ich hatte Hunger, wir waren gefangen und mein Rücken schmerzte. Und mit Benjamin stimmte etwas nicht. Sein Blick hielt nicht still. Seine Augen zuckten von links nach rechts, nach oben, unten, diagonal in die
rechte obere Ecke und wieder zurück zu mir.

„Was ist los?“, fragte ich und konnte nicht verhindern, dass ich alarmiert klang. Er schüttelte den Kopf. „Nichts. Ich fühle mich hier drin einfach nicht wohl. Obwohl du hier bist.“ Ich seufzte. Ich tat das auch nicht. Es war zwar nicht eklig in dem Raum, ich konnte weder Schimmel, noch Nässe und Dreck sehen, aber es war nicht gerade einladend. Wir waren Gefangene. Wir saßen fest in einem Raum, in dem es außer einem kaputten Bettgestell und einer dünnen Matratze nichts gab. Und ich musste aufs Klo.

Es war mehr eine Vermutung, als Wissen, aber ich stand auf und ging zu der schwarzen Tür. Der Knauf war eine Krone. Eine ebenso schwarze Krone. Ich legte meine Finger zwischen die Zacken und drehte den Knauf um. Die Tür ging tatsächlich auf und als ich dahinter ein winziges Bad entdeckte, war ich erleichtert. Mit einem „Bin gleich wieder da“ schob ich mich in den Raum und schloss die Tür. Die Bezeichnung Bad hatte er gar nicht verdient.

Es gab ein Klo ohne Deckel und Brille, ein Waschbecken, bei dem die Kabel und Röhren aus der Wand rausschauten, darüber einen winzigen Spiegel und eine Dusche, die so klein war, dass ich mir sicher war, wenn ich duschte, würden meine Arme links und rechts den Vorhang berühren. Es gab nicht einmal Seife oder so etwas. Ich konnte von Glück reden, dass neben dem Klo eine Klopapierrolle stand. Aber selbst die war nur noch zur Hälfte voll. Und einlagig. Ich seufzte resigniert auf, erledigte, was ich zu erledigen hatte, und wusch meine Hände.

Mein Gesicht sah richtig beschissen aus. Augenringe, Dreck auf den Wangen, eine Wunde an der Stirn. Das volle Programm. Ich rubbelte mir mit dem Ärmel den Schmutz weg und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Als ob ich hätte warmes nehmen können. Es gab kein warmes Wasser. Ich warf mir ein halbherziges Lächeln zu und verschwand aus dem winzigen Raum. Benjamin saß noch immer an der gleichen Stelle. Als ich mich neben ihn setzte und seine Hand in meine nahm, durchfuhr mich eine Welle des Schmerzes.

Ich stöhnte auf und war gleichzeitig verwirrt. Was war das? Es waren keine
körperlichen Schmerzen gewesen, nein. Es waren Schmerzen, die einen denken ließen, das Herz zerbrach in tausend Teile, die einem dann noch mehr weh taten. Ich rieb mir die Stelle, an der mein Herz saß und verzog das Gesicht. Schon wieder hatte ich das Gefühl, dass diese Schmerzen nicht meine eigenen waren. Und dieses Mal versuchte ich erst gar nicht, mir diesen Verdacht auszureden. Ich wusste, dass es nicht mein Herz war, das weh tat.

Die Kraft der Elemente - Alles liegt in deiner HandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt