16.

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In dieser Nacht schlief Tia – dank des fehlenden Wolfswurzes – deutlich besser als die letzten Nächte.
Bereits früh am Morgen, erwachte sie und fühlte sich bereits deutlich besser als die letzten beiden Tage. Ihr Körper schmerzte zwar immer noch, doch waren die Schmerzen nun gut auszuhalten. Und auch sonst fühlte sie sich schon erheblich besser.
Sie hatte sich gerade erst aufgesetzt, als sie das inzwischen bekannte Geräusch des Türriegels hörte, der zurück geschoben wurde. Sofort spannte ihr Körper sich an, während ihre Finger fahrig suchend nach dem Holzherz tasteten. Kaum, dass sich ihre Hand darum schloss, entspannte sie sich wieder. Die Tür öffnete sich und Tia blickte unsicher, mit leuchtend blauen Augen, durch das Dämmerlicht ihrer Zelle zu dem hellen Rahmen.
Mit einer Lampe in der Hand betrat Baran den kargen Raum und nickte Tia freundlich zu.
„Guten Morgen, Tia. Wie geht es dir?"
Anstatt einer Antwort, begann Tias Magen laut zu knurren.
Amüsiert lachte der Hauptmann auf und hängte die Laterne an einen Haken.
„Ich werte das mal als ein Ja. Du wirst gleich etwas zu essen bekommen."
Baran hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als Tias Ohren sich leicht verformten und spitz in Richtung Gang wiesen. Entspannt blickte sie zur Tür.
„Ich muss das dringend unter Kontrolle kriegen ...", murmelte sie leise und mit einem Seufzen.
Irritiert blickte der Hauptmann zu ihr. „Was musst du unter Kontrolle kriegen?"
Tia grinste verlegen und deutete auf ihre Ohren. „Das da..."

Tia wurde einer weiteren Antwort enthoben, als Leon nun ebenfalls die Zelle betrat und neugierig zu dem Mädchen blickte.
„Guten Morgen, Tia. Geht es dir gut?"
Die Wandlerin lächelte sacht. „Es geht mir schon viel besser", bestätigte sie.
„Das freut mich, zu hören." Sein Blick wanderte fragend zu Baran und als dieser nickte, wandte er sich dem Gang zu.
„Du kannst reinkommen, Nuri."
Kurz darauf trat die junge Dienerin ebenfalls in die Zelle. In den Händen trug sie ein schwer beladenes Tablett. Während sie auf den Tisch zuging, biss sie sich vor lauter Konzentration leicht auf die Lippe.
Schließlich stellte sie es mit einem erleichterten Seufzen ab und drehte sich zu Tia um und sah sie abwartend an.
Als Tia irritiert zwischen den drei Besuchern hin und her blickte, lachte Leon amüsiert auf.
„Ich habe dein Magenknurren bis auf den Gang gehört. Sag also nicht, dass du keinen Hunger hast."
Zögernd stand Tia auf und trat an den Tisch, nur um sofort ungläubig zu Leon zu schauen.
„Wer soll denn das alles essen?"
Nuri drängte sich nach vorne.
„Iss einfach, worauf du Lust hast. Ich wusste nicht, was du gerne magst. Also habe ich einfach alles Mögliche mitgebracht."
Tia lächelte. „Ich danke dir, Nuri. Aber was du gebracht hast, reicht ja für ein ganzes Rudel..."
Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, als ihr Blick sich verfinsterte und etwas Trauriges, Schwermütiges, annahm.
Sofort stand Leon neben ihr und legte seinen Arm um Tias Schulter.
Baran berührte Nuri sacht am Arm und nickte ihr zu. „Komm, Nuri. Lassen wir Tia in Ruhe frühstücken."
Leise verließen die beiden die Zelle und Baran schloss die Tür hinter sich.

Tia schluckte schwer, als ihre Augen feucht wurden.
„Werde ich jemals wieder zu meinem Rudel zurückkehren dürfen?"
Leon seufzte. „Mein Vater glaubt fest an diese Prophezeiung."
„Und was glaubst du?"
Leon zog einen Stuhl heran und gab Tia ein Zeichen, sich zu setzen. Dann nahm er ihr gegenüber Platz.
„Was ich glaube? Ich denke, dass der Krieg schon viel zu lange geht und dass eine Lösung gefunden werden muss, damit wir endlich in Frieden leben können.
Ich denke auch, dass an der Prophezeiung von meinem Ururgroßvater etwas dran ist. Aber ich bin mir inzwischen nicht mehr wirklich sicher, dass wir sie richtig gedeutet haben.
Sie wirkt so seltsam. Warum muss eine Seite verdammt sein, damit es Frieden geben kann?"
Tia runzelte die Stirn. „Ihr alle redet immer nur von einer Prophezeiung. Aber ich weiß immer noch nicht, was darin steht. Erzählst du es mir?"
Für einen Augenblick schien Leon abzuwägen. Dann nickte er.
„Ich denke, da spricht nichts dagegen. Aber zuerst wirst du etwas essen."
Tia lächelte schwach und griff zögerlich nach einem Stück Brot. Während sie bereits begann, zu essen, goss Leon ihr einen Becher Saft ein und lehnte sich dann entspannt zurück.
Erst, als sich das Mädchen nach einer Weile zurücklehnte, richtete er sich wieder auf und blickte skeptisch auf das Tablett, auf dem nicht merklich etwas fehlte.
„Bist du wirklich satt?"
Tia nickte. „Ich kann beim besten Willen nichts mehr essen."
„Nagut. Also die Prophezeiung."
Gespannt lehnte Tia sich nach vorne. Erneut wechselten ihre Augen die Farbe – dieses Mal jedoch vor Neugier.
„Einige Zeit vor Neumond hat mein Vater in seinem Büro ein Geheimversteck entdeckt. Darin lag eine alte Schriftrolle, geschrieben von meinem Ururgroßvater Julius. Er erklärt darin, wie und wann es zum Frieden zwischen Werwölfen und Vampiren kommen kann."
Leon lehnte sich leicht zurück und schloss die Augen.
„Zwei Wesen so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Von den Göttern geschaffen und für den Frieden gemacht. Nach langer Nacht wird der neue Tag beginnen, doch für eine der Seiten gibt es kein Entrinnen. Die Macht ins Unendliche steigt, sind beide unter einem Dach vereint."
Tia runzelte die Stirn.
„Hm. Das ihr denkt, dass mit den zwei Wesen wir gemeint sind, kann ich ja noch nachvollziehen."
Leon öffnete wieder seine Augen und neigte bestätigend den Kopf.
„Und wir vermuten, mit der langen Nacht ist der Krieg gemeint."
„Ja. Das klingt logisch. Aber wie soll es bitte zum Frieden kommen, wenn eine der beiden Seiten leiden muss? Das wäre dann doch kein Frieden, sondern Unterwerfung."
Überrascht hob Leon die Augenbrauen.
„Du hast recht, Tia. Die Prophezeiung spricht eindeutig von Frieden. Aber..." Er zögerte.
Nervös spielte Tia mit ihrem Schmuckstück. „Aber was?"
„Bis jetzt hat es eher die gegenteilige Reaktion, also dass du hier bist. Einige aus deinem Rudel schleichen bereits seit gestern um die Burg herum. In den Morgenstunden haben sie sogar eine Gruppe Vampire angegriffen, die die Burg verlassen wollten."
Die Wandlerin lachte trocken auf. „Habt ihr wirklich gedacht, mein Vater würde die Hände in den Schoß legen und einfach zulassen, dass ihr mich hier gefangen haltet?"
Leon kratzte sich verlegen am Kopf. „Ehrlich gesagt, haben wir uns darüber gar keine Gedanken gemacht. Wir waren überzeugt, die Prophezeiung richtig gedeutet zu haben."
Tia schüttelte ungläubig den Kopf.
„Aber irgendwie kommt mir eure Prophezeiung dennoch seltsam vor. Sie wirkt auf mich irgendwie unvollständig. Sie lässt die andere Seite völlig außen vor."
„Das mag stimmen, aber es stand wirklich nicht mehr auf dem Pergament."

Noch bevor Tia antworten konnte, öffnete Baran die Tür und schob seinen Kopf in die Zelle.
„Krähenauge, Leon."
Tia blickte mit gerunzelter Stirn zu Baran. Als sie sich wieder zurückwandte, war der Platz ihr gegenüber leer.
Verblüfft sah sie erneut zur Tür und entdeckte dort Leon, der ihr grinsend entgegen sah und den Finger auf die Lippen legte – keinen Moment zu früh, denn im nächsten Augenblick öffnete Baran bereits die Zellentür und König Simon betrat das Verlies.
Ruckartig wanderte Tias Hand zu ihrem Anhänger und schloss sich darum, während sie gleichzeitig tief durchatmete. Doch dieses Mal verformten sich weder ihre Finger, noch verfärbten sich ihre Augen.
Simon musterte seine Gefangene zufrieden und setzte sich dann auf den Stuhl, auf dem kurz zuvor noch Leon gesessen hatte.
Sichtlich amüsiert betrachtete er das überladene Frühstückstablett.
„Da hat es aber jemand gut mit dir gemeint. Hast du schon gegessen?"
Tias Faust schloss sich etwas fester um das Herz, als sie nickte.
„Gut. Ich erwarte von dir, dass du regelmäßig isst, damit du rasch wieder gesund wirst."
Erneut nickte Tia nur, doch Simon schien mit dieser Reaktion zufrieden.
Er griff sich einen Apfel vom Tablett und biss hinein.
„Wie geht es dir heute?"
Die junge Frau rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her.
„Es geht schon wieder besser."
Dieses Mal war es der Vampir, der nickte.
„Sehr schön. Bis du wieder ganz gesund bist, wird Hauptmann Baran dir übrigens keinen Wolfswurz geben. Allerdings werde ich es nicht zulassen, dass du dich zum Werwolf wandelst."
Tia öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder und senkte stattdessen den Kopf.
Simon musterte sie noch einen Moment, wandte dann aber den Blick zu Leon.
„Was machst du eigentlich hier unten, Sohn?"
Leon lächelte galant und trat neben seinen Vater. Unbemerkt von diesem zwinkerte er Tia zu.
„Sagst du nicht immer: Kenne deinen Feind, Vater?"
„Das habe ich wohl gesagt."
Leon schmunzelte. „Ich möchte einfach mehr über unsere Feinde herausfinden. Da dachte ich, es bietet sich an, mit dem Mädchen zu reden."
„Eine sehr kluge Idee. Und konntest du schon etwas herausfinden?"
Scheinbar bedauernd schüttelte Leon den Kopf. „Leider nicht. Noch konnte ich nichts von ihr erfahren, was uns helfen könnte."
Simon neigte leicht den Kopf. „Das dachte ich mir schon. Ich bezweifle auch, dass du etwas Sinnvolles von ihr erfahren wirst. Sie wird ihr Rudel nie verraten. Du kannst deine Zeit und Energie also sinnvoller verwenden, zumal Garin mir erzählt hat, dass du unserer Gefangenen nicht zum ersten Mal einen Besuch abstattest. Ich denke nicht, dass du bei ihr etwas erreichen wirst. Daher erwarte ich von dir, dich wieder mehr deinen Aufgaben und Pflichten zu widmen. Haben wir uns verstanden, mein Sohn?"
Nur kurz verkrampfte sich Leons Kiefer, doch dann nickte er. „Ja, Vater."
„Sehr gut. Dann kannst du jetzt gehen. Komm bitte zur Mittagsstunde in mein Büro. Wir müssen unser weiteres Vorgehen planen."
Unbemerkt von Simon ballte Leon die Fäuste. Dann wandte er sich ruckartig ab und verließ die Zelle.
Der König stand ebenfalls auf und nickte Tia zu.
„Wenn du weiterhin so vernünftig bist, werde ich veranlassen, dass Baran dich morgen in eine angenehmere Zelle verlegt."
Ohne eine Reaktion abzuwarten, verließ Simon ebenfalls die Zelle.

Kaum, dass sich die Tür geschlossen hatte, atmete Tia tief durch und löste den Griff um das Holzherz.
Erschöpft lehnte sie sich zurück.
„Du solltest dich wieder hinlegen, Tia", wandte sich Baran an sie. „Du bist doch noch sehr schwach. Soll ich dir dein Bett noch unter den Lichtschacht stellen?"
Tia lächelte sacht. „Das wäre nett."
„Dann warte kurz."
Baran trat auf das schlichte Bett zu und kurz darauf stand das Gestell bereits unter dem Lichtschacht.
Tia stand auf und schwankte kurz, als sie auf das Bett zuging und sich hinlegte.
Der Hauptmann warf noch einen prüfenden Blick auf sie und ging dann zur Tür.
„Ich lasse dir das Essen da, falls du doch noch Hunger bekommst. Ansonsten wird Nuri dir heute Mittag etwas Frisches bringen."
Er wollte gerade die Zelle verlassen, als Tia ihn ansprach.
„Baran?"
Der Vampir legte fragend den Kopf schief.
„Was sollte das mit ‚Krähenauge' bedeuten?"
Baran grinste amüsiert. „Das erzähle ich dir ein anderes Mal – oder Leon erzählt es dir, wenn er dich wieder besucht", beantwortete er Tias Frage dann schmunzelnd.


Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die GeiselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt