An Schlaf war nicht mehr zu denken. Unentwegt fragte sie sich, wie die Szene auf jener Wiese bei dem Hohlweg ausgegangen war. Samantha konnte sich nicht vorstellen, dass Carlotta sich ohne Gegenwehr hatte gefangen nehmen lassen. Sie hatte sich vorhin zwar ruhig verhalten, aber es war eher die trügerische Ruhe eines Raubtieres vor dem Sprung gewesen, kein Ergeben in ihr Schicksal.
Samantha wünschte, sie wäre nicht aufgewacht und sie hätte Carlotta besser im Auge behalten, aber in dem Moment, als Hatfield versucht hatte, sich zur Wehr zu setzen und alles in sein Blut getaucht worden war, hatte sie nichts anderes mehr wahrgenommen. Die Frage, ob es Richard gut ging, war zurück und die Sorge nagte von neuem an ihr. Es war zum Verrückt werden.
Doch dann erinnerte sie sich an den Rosenquarz in Richards Rocktasche. Der magische Stein war nicht länger verschwunden. Richard hatte ihn an sich genommen und würde dafür sorgen, dass sie ihn bekam. Wenn er konnte und Carlotta nicht wieder irgendeinen hinterhältigen Trick angewandt hatte.
Samantha stellte die Überlegungen fest, während sie von innerer Unruhe geplagt, in Lucys Wohnzimmer auf und ab ging. Schließlich blieb sie mitten im Zimmer stehen und ihr Blick fiel auf das Holzkästchen, das Lucy noch nicht wieder weggeräumt hatte. Samantha setzte sich mit dem Kästchen aufs Sofa und leerte es erneut. Diesmal musste sie nicht über den Trick nachdenken, der das Geheimfach sich öffnen ließ, aber wieder war es leer.
Samantha keuchte frustriert auf. Darüber, was das erneute Fehlen der Kette zu bedeuten hatte, wollte sie nicht nachdenken. Doch der Gedanke ließ sich auch nicht vertreiben. Richard hatte gewusst, dass sie in dem Kästchen nach dem Stein suchen würde, warum hatte er ihn nicht dort hineingelegt. Hatte er es nicht können, weil Carlotta...
Das Gedankenkarussell drehte sich von neuem und wieder begann sie unruhig auf und abzugehen. Doch als langsam der Morgen graute und das fahle Licht und die ersten Sonnenstrahlen ins Zimmer drangen, verwandelte sich ihre Sorge in Entschlossenheit. Bei Tageslicht war gleich alles nicht mehr ganz so aussichtslos und sie nahm sich vor, im Museum Nachforschungen anzustellen. Viv hatte mit Robin stapelweise alte Unterlagen, Briefe, Akten und alles Mögliche, in den Dachkammern von Ferywood Manor gefunden. Sie hatte es selbst im Traum gesehen, und auch wenn Viv und Samantha nicht viel miteinander gemein hatten, dann war sich Samantha doch sicher, dass Viv es als Historikerin nicht übers Herz bringen würde, solche Zeitzeugnisse wegzuwerfen oder dem langsamen Verfall durch Feuchtigkeit und Mäuse auszusetzen. Wahrscheinlicher war es, dass sie sie ordnete und katalogisierte und für nachfolgende Generationen im Museum verwahrte. Zumindest war es das, was Samantha damit getan hätte. Es konnte natürlich sein, dass die Unterlagen keine für sie wertvollen Informationen enthielten, aber wenn sie nicht nachsah, dann würde sie es nicht erfahren. Und so wie es bisher aussah, hatte Samantha viel Zeit dafür.
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„Guten Morgen, gut geschlafen?"
Es hatte noch eine ganze Weile gedauert, bis Lucy wach geworden war. Samantha saß schon fertig angezogen auf dem Sofa, was Lucy, die noch ziemlich verschlafen wirkte, erstaunt innehalten ließ, als sie ins Wohnzimmer kam.
„Guten Morgen. Ich habe mir schon mal einen Tee gemacht."
„In dem Fall hast du nicht gut geschlafen", stellte Lucy fest und unterdrückte ein Gähnen. „Ist alles in Ordnung? Fit siehst du nämlich nicht gerade aus."
„Nicht wirklich", seufzte Samantha und erzählte ihrer Freundin von dem Traum und von ihrem Plan, Viv nach den Unterlagen zu fragen.
Lucy hielt es für einen guten Einfall, erinnerte Samantha aber daran, dass es noch Stunden dauerte, bis das Museum öffnete. Dann ging sie in die Küche um Frühstück zu machen und stellte fest, dass nichts da war.
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Die Schatten von Ferywood
Historical Fiction~ Teil 2 der Ferywood-Saga ~ 1818 - Über 2 Jahre sind seit der schicksalhaften Schlacht von Waterloo vergangen. Richard und Samantha leben als Lord und Lady Velton in Paris. Sie glauben, die Vergangenheit und die Zukunft hinter sich gelassen zu habe...