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Annalena

„Es ist alles gut, Papa", antwortete ich. „Ich komme klar."
„Das freut mich. Und du weißt, dass du dich immer melden kannst. Wir können immer reden, okay?"
Ich drückte die Hand meines Vaters. „Ich weiß."
Über Wincent wollte ich trotzdem noch nicht mit ihm reden. Ich wollte mir erst sicher sein, was das war, bevor ich mit ihm darüber sprach. Was Beziehungen anging, war ich einfach zu unerfahren und durch die gescheiterte Ehe meiner Eltern auch ein gebranntes Kind. Ich war mit meinen 27 Jahren einfach in einem Alter, wo man kein Wert mehr auf lose Beziehungen legte. Wenn dann, wollte ich etwas langfristiges, vielleicht auch für immer. Und das war der Knackpunkt. Ich hatte noch nie eine Beziehung und wusste gar nicht, wie das gehen sollte. Klar hatte ich Vorstellungen im Kopf, aber Hörbücher waren vielleicht nicht die beste Vorlage für zwischenmenschliche Beziehungen, die ein Leben lang halten sollten. Zumindest hatte ich noch keine Story mit einem Bühnenbildner und einem Model gefunden. Gut, in dem Fall war laut meiner Mutter ich Schuld, dass es scheiterte. Nicht gerade die beste Vorlage für ein Hörbuch, wenn ich so darüber nachdachte. Aber es gab auch keins mit einem gefeierten Star und einer Aushilfsbibliothekarin, die zu allem Überfluss auch noch behindert war. Das Leben schrieb eben immer noch die besten Geschichten selbst, aber das brachte mir rein gar nichts. Die Situation mit Wincent war quasi kaltes Wasser und zwar auf voller Breitseite. Gut, ich hatte mich ein wenig selbst in die Lage gebracht, aber ich konnte nicht anders. Und wann, wenn nicht jetzt, sollte ich irgendwas darüber lernen?
„Oh, Sie haben Besuch", sagte auf einmal eine fremde Stimme.
„Das ist meine Tochter Anna", stellte mein Vater mich vor. Dann wandte er sich an mich. „Anna, das ist Dr. Klarsen, mein behandelnder Arzt."
„Ich wollte gerne die Befunde mit Ihnen auswerten", sagte Dr. Klarsen.
„Meine Tochter kann ruhig dabei bleiben. Schießen Sie mal los. Was haben wir denn schönes?", fragte mein Vater den Arzt.
Die Vibration meines Handy lenkte die Aufmerksamkeit auf sich. Offenbar war eine neue Nachricht eingegangen. Ich fischte in meiner Jacke nach dem Case meiner AirPods und steckte mir einen ins Ohr.
„Eine neue Nachricht von Wincent."
Mein Puls beschleunigte sich automatisch. Er hatte sich doch noch gemeldet.
„Eine neue Nachricht von Wincent."
Was war denn jetzt los? Gleich zwei Nachrichten? Als Entschädigung dafür, dass gestern keine mehr kam?
Kurz spielte ich mit dem Gedanken, die Nachricht jetzt schon abzuhören. Dann würde mein Vater jedoch direkt checken, dass etwas nicht stimmte. Also versuchte ich ruhig zu bleiben und nahm den AirPod wieder raus.
„Wie lange dauert das?", fragte mein Vater gerade.
Ups, ich hatte wohl die Diagnose verpasst. Naja, er würde mir schon sagen, was er brauchte. Eine Woche hatte ich auf jeden Fall Zeit, das hatte Lara geklärt.
„Also Sie müssen sich auf jeden Fall noch sechs Wochen schonen. Ich verschreibe Ihnen Physiotherapie. In zwei bis drei Wochen können Sie dann langsam wieder mit der Belastung anfangen, aber bitte nur mit Bandage. In zwei Tagen schauen wir uns den Verband nochmal an und wenn alles gut aussieht, können Sie nach Hause", erklärte der Arzt.
Das waren ja mal prächtige Aussichten. Wie stellten die sich das denn vor? Mein Vater wohnte alleine und ich musste irgendwann wieder arbeiten. So gerne ich ihm auch half, aber ich musste spätestens am Wochenende in meine gewohnte Umgebung in Berlin zurück. Außerdem liebte mein Vater seinen Job. Ich wollte mir nicht ausmalen, wie seine Laune war, bis er endlich wieder arbeiten gehen durfte.
Mein Vater und der Arzt sprachen noch kurz und dann hörte ich die Tür ins Schloss klicken.
„Anna?", fragte mein Vater.
„Ja?"
„Du siehst irgendwie müde aus. Willst du dich hinlegen und wir reden morgen?"
„Wenn das für dich okay ist?"
„Natürlich. In meiner Tasche ist der Schlüssel. Vielleicht kann Steffi ihn dir geben. Sie wird dich bestimmt hinbringen."
„Ich sag ihr Bescheid", sagte ich und ließ Steffis Nummer wählen.
„Hey Anna", begrüßte sie mich.
„Hi Steffi. Ich würd gern nach Hause."
„Ich bin gleich bei dir."
„Danke." Damit war das Telefonat beendet.
Ich stand auf. „Ich geh mal raus und melde mich bei Lara, ja?"
„Ist okay, wir sehen uns ja morgen. Schlaf gut, mein Schatz. Ich hab dich lieb."
„Ich hab dich auch lieb, Papa."
Ich tastete mich am Bett entlang und ging dann auf die Tür zu. Mit der Hand suchte ich nach der Klinke und verließ das Zimmer. Hinter mir schloss ich die Tür leise wieder und ging einen Schritt zur Seite, damit ich nicht direkt davor stand.
Ich ließ den Chat mit Lara öffnen und nahm eine Sprachnachricht auf.
„Hey Lara, ich war gerade bei meinem Vater. Sieht nicht so schlimm aus, aber er muss sich lange schonen. Das wird echt hart für ihn. In zwei Tagen kommt der Verband ab und er darf nach Hause. Ich denke, ich bleibe bis zum Wochenende hier und dann mal schauen."
Keine zwei Minuten später hatte ich die Antwort. Lara hatte offensichtlich auf ihr Handy gestarrt und auf eine Nachricht von mir gewartet. Ich steckte wieder einen AirPod rein und ließ die Audio abspielen.
„Hey Anna. Das klingt ja echt nicht so prickelnd. Wer auch immer ihm dann absehbar hilft, braucht starke Nerven. Ein Workaholic, der nicht arbeiten darf? Ich will es mir gar nicht ausmalen. Richte ihm auf jeden Fall schöne Grüße und gute Besserung aus, ja? Ach und noch etwas. Wenn du Ende der Woche zurück kommst, will ich dich glücklicher sehen als vor deiner Reise nach Hamburg. Also erstens bist du in deiner alten Heimat und zweites ist da noch jemand, mit dem du dich ganz dringend treffen solltest. Wenn ihr das nicht hinbekommt, dann fresse ich einen Besen. Küsschen."
Oh je. Erst einmal musste ich mir seine Nachrichten anhören. Die erste ließ ich direkt abspielen und musste einfach grinsen, als er das mit dem Fail von letzter Nacht erzählte. Bevor ich mir die zweite Audio anhörte, startete ich eine Sprachnachricht als Antwort.
„Moin Wincent. Tja, Technik, die begeistert, oder? Ich war auf jeden Fall gerade bei meinem Vater und ihm geht es ganz gut. Danke für das Angebot, ich komme bestimmt drauf zurück. Auf jeden Fall hätten wir die Chance das Fischbrötchen einzulösen."
In diesem Moment hörte ich Steffis Stimme.
„Audio löschen", sagte ich schnell und steckte das Handy weg. Sie musste ja nicht alles wissen. Dann antwortete ich ihm eben erst, wenn ich bei meinem Vater in der Wohnung war.
„Anna, du bist ja schon hier draußen." Steffi stand vermutlich direkt neben mir.
„Ja, ich hab mit einer Freundin geschrieben", antwortete ich. „Aber du müsstest mir Papas Schlüssel holen."
„Mach ich gerne. Warte einfach kurz hier."
Ich nickte und hörte dann, wie die Tür neben mir aufging. Steffi und mein Vater unterhielten sich kurz und dann ging die Tür wieder zu.
„So, dann mal auf nach Hause", sagte Steffi und nahm meine Hand, um mich wieder nach draußen zu führen.

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt