Das Rennen

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Die nächsten Tage gelang es mir Emilia weitesgehend zu ignorieren, obwohl ich sie ständig sah. Es reichte nicht, dass sie in zwei meiner Kurse war. Nein, ich musste ihr auch in den Pausen ständig begegnen. Irgendwann änderte ich meine Taktik und begab mich nach meinem Unterricht so schnell wie möglich ins Lehrerzimmer, wo ich dann auch die Pausen verbrachte.
Jetzt stand mir aber erst einmal eine Doppelstunde Sport bevor.
Da Leichtathletik ein Abiturthema war, hatte ich für diese Doppelstunde eine Ausdauereinheit geplant. Dafür erntete ich von meinen Schülern natürlich kollektives Stöhnen.
"Laufen Sie mit?", fragte mich Emilia.
"Nein", antwortete ich.
"Haben Sie Angst, dass ich Sie abziehen könnte?", fragte mich Emila. Dabei hob sie provozierend die Augenbrauen.
"Das ist lächerlich", sagte ich.
"Dann beweisen Sie es. Oder haben Sie Angst?", fragte sie.
"Wenn du langsamer bist als ich, wirst du bis zu deinem Abschluss eine brave Schülerin sein und dich mit keinem einzigen Lehrer mehr anlegen", sagte ich.
"Und wenn Sie verlieren, geben Sie uns in Mathe nie wieder Hausaufgaben auf", sagte Emilia und streckte mir die Hand entgegen.
"Deal", sagte ich und schlug ein. In dem Moment, in dem ich einschlug, bereute ich es. Warum ließ ich mich immer so leicht provozieren?
Zusammen mit meinen Schülern ging ich auf die Laufbahn. Ich gab das Startsignal und dann rannten wir los. Emilia sprintete sofort los. Nach ein paar Schritten hatte ich sie eingeholt. Schweigend lief ich neben ihr her. Ich war mir absolut sicher, dass sie dieses Tempo keine zwölfeinhalb Runden durchhalten würde. Doch auch nach 6 Runden wurde sie kein bisschen langsamer.
Auch nach weiteren 3 Runden verlor sie nicht an Tempo.
"Läufst du viel?", fragte ich sie.
"Versuchst du mich gerade abzulenken?", fragte sie mich.
"Klappt es?", fragte ich sie.
"Nein", sagte sie.
"Was machst du, wenn ich gewinne?", fragte sie mich.
"Ich verliere nicht", sagte ich.
"Wir werden sehen", sagte sie.
Dann zog ich das Tempo erheblich an. Damit schien Emilia nicht gerechnet zu haben. Sie hatte erst einmal große Mühe mit mir mittuhalten. Sie brauchte beinahe eine ganze Runde, um wieder aufzuschließen.
"Kannst du noch?", fragte ich sie grinsend.
"Klar", sagte sie. Doch ich hörte, wie sie heftig am Schnaufen war.
Erneut wurde ich schneller. Doch dieses Mal hatte ich den Überraschungsmoment nicht auf meiner Seite. Emilia ging mein Tempo sofort mit. Die letzten Runden lieferten wir uns ein hitziges Rennen. Mal zog ich an, mal Emilia. Die letzten 200 Meter rannten wir uns die Lunge aus dem Leib. Zeitgleich liefen wir schließlich über die Linie und ließen uns direkt dahinter auf den Boden fallen.
"Starkes Rennen", sagte ich und hielt Emilia die Hand zum Aufstehen hin.
"Mist. Ich hab mich schon auf Hausaufgabenfrei gefreut", sagte sie grinsend.
"Das konnte ich ja nicht zulassen", sagte ich grinsend.
Nach und nach kamen auch die Anderen ins Ziel.
"Das war eine gute Einheit und jetzt ab unter die Dusche", sagte ich zu meinen Schülern.
"Emilia bleibst du bitte noch kurz hier", bat ich sie.
Irritiert blieb sie stehen und wartete, bis ihre Mitschüler verschwunden waren.
"Was gibt es?", fragte sie mich.
Ich zog ein Blatt Papier aus meiner Tasche und hielt es ihr unter die Nase.
"Was ist das?", fragte Emilia.
"Das ist fürs Schulamt. Ich muss meine Daten angeben", sagte ich.
"Und was hab ich damit zu tun?", fragte Emilia.
"Hier", sagte ich und deutete auf eine bestimmte Stelle auf dem Blatt.
Emilia las die Stelle zum Familienstand. Als sie verheiratet las, blickte sie auf.
"Oh", sagte sie.
"Ja, oh. Ich muss dich da angeben", sagte ich.
"Kannst du das nicht einfach leer lassen?", fragte sie mich.
"Nein. Das ist fürs Schulamt. Das muss ich ausfüllen und zwar wahrheitsgemäß", sagte ich.
"Und dann darfst du mich nicht mehr unterrichten?", fragte mich Emilia.
"Nein", sagte ich.
"Das ist blöd", sagte Emilia. Ich sah, wie sie sich auf die Unterlippe biss. "Ich kann auf keine andere Schule gehen und du bist die einzige Lehrerin, die mir eine faire Chance gibt und mich nicht in eine Schublade steckt", sagte sie.
"Ich weiß", sagte ich. Ich hatte bereits mitbekommen, dass Emilia nicht von allen Lehrern fair behandelt wurde und sich einige gar nicht erst die Mühe machten ihr zum Abschluss zu verhelfen.
"Und wenn wir lügen?", fragte sie.
"Wenn rauskommt, dass ich hier falsche Angaben mache, bin ich meinen Job los", sagte ich und deutete auf den Zettel.
"Kannst du nicht aus Emilia Emilio machen? Du könntest doch einfach den Strich am a vergessen haben", murmelte Emilia.
Ich seufzte. "Emilia", sagte ich.
"Bitte", sagte sie. "Du willst doch auch nicht, dass das jemand erfährt", sagte sie.
Ich seufzte erneut. Natürlich wollte ich das nicht. "Es war auch eigentlich nur eine Nacht im Vollrausch. Wir kennen uns im Grunde gar nicht", sagte ich.
"Siehst du", sagte Emilia grinsend.
"Dann darf aber niemand von uns erfahren. Du behandelst mich wie jeden anderen Lehrer auch. Du hörst auf mich zu dutzen. Wir tragen unsere Eheringe nicht in der Schule. Vor allem, sind wir uns nie in Vegas begegnet", sagte ich.
Warum ich den Ehering immer noch trug, war mir ein Rätsel. Ich hatte es wohl einfach versäumt ihn abzuziehen.
"Du weißt aber, dass ich zu meinen anderen Lehrern nicht sonderlich nett bin?", fragte sie.
Ich grinste. "Das ist mir zu Ohren gekommen. Du wirst dich in meinem Unterricht genauso benehmen. Du musst dann mit den Konsequenzen leben", sagte ich.
"Okay", sagte sie.
"Dann wünsch ich dir einen schönen Nachmittag", sagte ich. Ich packte meine Sachen zusammen und schulterte meine Tasche.
"Dir auch", sagte Emilia.
"Für dich: Frau Yılmaz", sagte ich. Ich zwinkerte ihr zu und verließ dann den Sportplatz.

What happens in Vegas, stays in VegasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt