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Sowohl Baran als auch König Simon beobachteten Tia irritiert.
Mit einem schwermütigen Seuftzen öffnete die Wandlerin die Augen und sah die beiden Vampire ernst an.
„Es gäbe eine Möglichkeit, Hoheit"; erklärte sie. „Nur gefällt sie mir nicht wirklich."
Interessiert beugte der König sich nach vorne. „Darf ich fragen, wie du so plötzlich darauf kommst?"
Tia lachte freudlos auf. „Die Mondgöttin hat zu mir gesprochen." Simon runzelte die Stirn.
„Die Mutter aller Wölfe. Unsere Göttin, Ratgeberin und Wegweiserin. Unsere Schutzpatronin."
„Und was hat sie dir geraten?"
„Nicht geraten im eigentlichen Sinn. Sie hat mich angewiesen, Euch auf die Lösung Eures Problems aufmerksam zu machen."
Verwundert zog der König die Augenbrauen nach oben. „Wenn du sagst, diese Lösung gefällt dir nicht. Warum weist deine Göttin dich an, sie mir zu sagen? Wäre es nicht ihre Aufgabe, dich zu schützen?"
Tia zuckte die Schultern. „Die Wege der Luna sind unergründlich und dienen oft einem höheren Ziel. Was glaubt Ihr, warum ich gerade bei Euch stehe, König Simon? Bestimmt nicht, weil ich mich so gerne mit Euch unterhalte. Nein, die Göttin hat mich angewiesen, offen mit Euch zu sprechen, als ich ..." Die Wandlerin hielt einen Moment inne. „... als ich nach der letzten Gabe Wolfswurz bewusstlos war."
„Ah." Simon neigte verstehend den Kopf. „Das erklärt natürlich einiges. „Sie hat dir also befohlen, mir ehrlich alles zu sagen?"
Tia nickte lediglich. „Und wenn du dich gegen ihre Anweisung stellen würdest? Was wäre dann?"
Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Man stellt sich nicht gegen die Anweisung seiner Göttin", erwiderte sie schlicht.
König Simons Blick hatte etwas Anerkennendes an sich, als er weitersprach. „Ich kann also davon ausgehen, dass alles, was du mir erzählst, der Wahrheit entspricht?"
Die Wandlerin grinste leicht. „Solange es um die Dinge geht, bei denen die Mondgöttin mich aufgefordert hat, sie Euch zu erzählen: Ja."
Simon lachte leise. „Eine kluge Antwort, Mädchen. Was ist nun diese Lösung, die dir nicht gefällt?"
Tia atmete tief durch.
„Ich soll Euch sagen, dass ich, wenn Ihr mich mit Silberfesseln bindet, keine Gefahr für Euch darstellen werde. Allerdings erst NACH der ersten Wandlung, da diese nicht verhindert werden darf."
„Und was gefällt dir an dieser Option nicht?"
„Das Gleiche, was Euresgleichen wohl auch nicht gefallen würde. Es wird mich schwächen. Und ich werde Schmerzen haben. Starke Schmerzen aller Wahrscheinlichkeit nach. Aber ich werde dadurch nicht in der Lage sein, mich zu wandeln."
Simon schüttelte fasziniert den Kopf. „Deine Aufrichtigkeit ist bewundernswert, junge Wandlerin. Wäre Wolfswurz nicht eine Alternative?"
„Nein. Nicht wirklich. Zwar wird es mich nach meiner ersten Vewandlung nicht mehr direkt töten können, aber ich werde immer stärker als andere darauf reagieren und würde davon krank werden."
„Also doch das Silber", sprach Simon nachdenklich zu sich selbst.
„Dennoch bleibt das Problem der ersten Wandlung. Wenn ich sie nicht verhindern darf, wie kann ich meine Leute vor dir schützen? Wer garantiert mir, dass du die Gelegenheit nicht zur Flucht nutzt?"
„Niemand. Ich könnte Euch viel versprechen, aber jeder reagiert beim ersten Mal unterschiedlich."
Mit einem Seufzen schloss Tia ihre Augen, schien erneut auf etwas zu lauschen. Als sie Simon wieder ansah, hatte ihr Blick etwas Trauriges an sich.
„Eine Zelle ähnlich der, in der Ihr mich am Anfang eingesperrt habt. Die Wände aus blankem Felsen, die Tür mit Silber verstärkt."
Simon nickte. „Ich werde darüber nachdenken."
Sein Blick wanderte zu Baran. „Ich denke, ich habe für den Moment genug gehört. Bring Tia zurück in ihre Zelle.
Danach gehst du mit Nuri in die Bibliothek und suchst nach entsprechenden Büchern. Frag sie, ob sie dieses Märchen von Ollouidus kennt."
Der Hauptmann verneigte sich respektvoll und nickte Tia dann zu. „Na dann komm. Lass uns zurückgehen."

Der Mond stand bereits über den Wipfeln der Bäume, als es erneut an die Tür des Büros klopfte.
Gemeinsam betraten Baran und Nuri den Raum. Simon seufzte, als er sah, dass die junge Dienerin nur ein einziges Buch dabei hatte.
„Das habe ich befürchtet", murmelte er, bevor er Baran direkt ansah. „Ich nehme an, wir haben keine entsprechenden Bücher?"
Der Hauptmann schüttelte den Kopf. „Nein. Leider nicht, Hoheit. Euer Sohn hat ebenfalls versucht, uns zu helfen, aber alles, was wir finden konnten, war dieses Märchen, von dem Tia erzählt hat."
Simon nickte. „Dann müssen wir uns notfalls etwas anderes überlegen. Danke, du kannst gehen."
Baran salutierte und wandte sich ab.
„Wenn du noch einen Moment bei mir bleiben würdest, Nuri?", bat der König das Mädchen.
Das Kind verneigte sich respektvoll und lächelte verlegen. „Natürlich, Hoheit. Wie Ihr wünscht."
Einladend wies Simon auf den Stuhl ihm gegenüber.
Nuri setzte sich auf die Kante und sah ihren Herrscher unsicher an.
Der Monarch lachte leise. „Entspann dich. Ich wollte lediglich die Gelegenheit nutzen, dich zu fragen, wie es dir geht. Immerhin bist du jetzt schon über ein Jahr in meinen Diensten."
„Es geht mir gut, Hoheit. Ich fühle mich wohl hier auf der Burg und arbeite gerne für Euch."
Simon grinste leicht. „Ich erinnere mich noch gut an unsere ersten Gespräche."
Verwirrt blickte das Mädchen den König an, dann lächelte sie. „Ich habe die Flederkatze nach wie vor, Hoheit."
„Genau darauf habe ich angespielt." Simon schmunzelte. „Damals hast du mich so gefürchtet, dass du mich nicht einmal ansehen konntest. Erst mit dem Kuscheltier war es dir möglich, mit mir zu reden."
Verlegen senkte Nuri den Blick, doch der Vampir schüttelte den Kopf. „Es war mehr als nur verständlich bei dem, was du erlebt hattest."
Nachdenklich lehnte er sich zurück und blickte zum Fenster. „Möchtest du einmal eine ECHTE Flederkatze sehen, Nuri?", fragte er unvermittelt.
Die Augen des Mädchens weiteten sich. „Ich weiß, Ihr habt mir damals erzählt, dass Ihr vor vielen Jahren eine gesehen habt, Hoheit. Aber ich dachte, das hättet Ihr nur getan, um mir meine Angst zu nehmen?"
Der König lachte leise in sich hinein. „Ja. Ich wollte dir deine Angst nehmen. Aber die Flederkatze habe ich wirklich gesehen. Es war nach einem langen und starkem Sturm, als ich sie gefunden habe. Sie war verletzt und ich habe sie gesund gepflegt."
Nuri sah ihren Herrscher mit großen Augen an.
Simon lächelte milde. „Ich kann dir nicht versprechen, dass Lilith auch tatsächlich kommt. Flederkatzen sind, wie du weißt, sehr eigenwillige Tiere. Aber wir können es versuchen. Komm mit ans Fenster."
Während Nuri bereits erwartungsvoll an die Fensteröffnung trat, öffnete Simon die oberste Schublade seines Schreibtischs und holte etwas Trockenfleisch heraus.
Mit dem Fleisch trat er neben Nuri und drückte es ihr in die Hand.
Prüfend ließ er seinen Blick über den Wald gleiten, stieß dann einen leisen Pfiff aus. „Lilith", rief er sanft. „Hier ist jemand, der dich gerne kennenlernen möchte."
Nuri kniff die Augen zusammen und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
„Jetzt müssen wir warten, ob sie kommt", erklärte der König.
Die Minuten verstrichen. Nuri wollte sich schon enttäuscht abwenden, als Simon auf einmal lächelte. „Ich glaube, ich höre sie."
Konzentriert lauschte das Mädchen in die Nacht hinein. „Ich höre nichts, Hoheit."
Der Vampir schmunzelte. „Du hast ja auch keine Vampirohren, Mädchen."
Er ging leicht in die Knie, um auf Nuris Höhe zu kommen, und streckte den Arm aus. „Schau, dort hinten. Siehst du den Schatten?"
Nuri kniff die Augen zusammen. Dann nickte sie. „Ja, Hoheit", erwiderte sie strahlend.
Bereits im nächsten Moment landete die schwarze Flederkatze auf der Fensterbank.
„Darf ich vorstellen, Nuri: Das ist Lilith." Er hob die Hand und wollte dem Tier über das Fell streichen, doch Lilith stieß ein unwilliges Grummeln aus und drehte ihm den Rücken zu.
Simon lachte leise. „Eigen wie eh und je. Lilith, das ist Nuri."
Er nickte dem Mädchen aufmunternd zu.
Nuri hob die Hand mit dem Stück Trockenfleisch und hielt es Lilith vorsichtig entgegen. Die Flederkatze schob ihren Kopf vor und schnupperte an dem Fleisch und der fremden Hand. Dann nahm sie die Leckerei behutsam aus Nuris Fingern, schlang sie hinunter und rieb ihren Kopf schnurrend an der Hand des Mädchens.
Fragend drehte das Mädchen den Blick zu Simon. „Nur zu, ich denke, sie hat nichts dagegen, wenn du sie streichelst", munterte dieser sie auf.
Behutsam hob das Kind die Hand und strich über Liliths Kopf. Sofort begann das Tier lauter zu schnurren und drängte sich an Nuris Brust.
Der König schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Da rettet man dir das Leben, Lilith, und als Dank bekommt man nicht nur die kalte Schulter gezeigt, nein, du schmiegst dich stattdessen sofort an eine meiner Dienerinnen."
„Ist es Euch nicht recht, Hoheit?" Nuri sah ihn verunsichert an.
„Es ist alles in Ordnung. Lilith ist eine Flederkatze. Sie entscheidet selbst, was sie möchte."
Gedankenverloren kraulte Nuri, das Tier.
Simon beobachtete sie eine Weile. „Kennst du das Märchen von Olloudius?"
„Nur dem Titel nach, Hoheit."
„Würdest du es mir vorlesen?"
Die Augen des Kindes weiteten sich. „Ich glaube, so gut kann ich noch nicht lesen, Hoheit."
„So viel, wie Leon dich lesen lässt?" Der Vampir schüttelte den Kopf und wies auf den Sessel vor dem Kamin. „Probier es einfach."
Nuri warf einen bedauernden Blick auf Lilith und strich ihr über das Fell. Dann holte sie das Buch und setzte sich vor den Kamin. Noch bevor sie das Buch aufschlagen konnte, hörte sie leises Flügelschlagen.
Sie blickte auf und lächelte, als Lilith sich auf ihrem Schoß niederließ.
„Die Legende von Olloudius" begann sie zu lesen.

Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die GeiselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt