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Mehrmals täglich zeigte Tia sich ihrem Rudel am Fenster. Mit jedem Mal schienen die Wölfe entspannter zu werden, was wohl auch daran lag, dass die junge Frau sich von Tag zu Tag mehr von den Folgen des Wolfswurzes erholte und wieder zu Kräften gelangte.
Gerade saß sie frustriert auf dem Bett und sah deprimiert auf ihre Hand, als die mittlerweile reparierte Tür zu ihrer Zelle geöffnet wurde.
Tia hob den Blick. „Hallo Leon", grüßte sie den Vampir, der sie inzwischen regelmäßig besuchte, um ihr Gesellschaft zu leisten. Mit einem Grinsen verschloss der Prinz die Tür hinter sich.
Sein Grinsen erstarb jäh, als er die junge Frau sah. „Was ist los, Tia?"
Die junge Frau seufzte. „Es will mir einfach nicht gelingen. Immer, wenn ich denke, dass ich den Dreh jetzt raus habe, klappt es noch schlechter als zuvor."
„Die Teilwandlung?", hakte Leon nach. Tia nickte nur stumm. „Ich muss es schaffen. Irgendwie muss ich es mir hinkriegen. Ich will nicht zu einem unkontrollierbaren Wolf werden, Leon." Verzweifelt sah Tia den Vampir an.
Die Matratze neben ihr gab nach, als Leon sich zu ihr sie setzte.
„Du machst dir selbst zu viel Druck, Tia. Vielleicht liegt es daran. Du hast doch noch Zeit."
„Ein paar Tage nur", brummte Tia. „Wie soll ich das bis Vollmond schaffen?"
Leon lächelte ihr aufmunternd zu.
„Zeig es mir, Tia."
Die Wandlerin zuckte die Schultern. „Ich kann es ja mal versuchen."
Sie schloss die Augen und spürte, wie Ruhe sie überkam, als Leon seine Hand auf ihren Rücken legte.
Tief atmete sie ein und konzentrierte sich. Ganz langsam öffnete sie die Augen und starrte auf ihre Hand.
Wie in Zeitlupe verlängerten sich die Finger, wurden erst spitzer und dann zu Krallen.
Während Leon fasziniert die kontrollierte Veränderung beobachtete, stieß Tia einen leisen Freudenschrei aus. Sofort schienen ihre gewandelten Finger zu pulsieren. Mühsam kämpfte die Werwölfin darum, die Konzentration wieder zu erlangen. Schließlich hob sie strahlend den Kopf.
„Es hat wirklich geklappt, Leon. Danke."
Der Vampir zog überrascht die Augenbraue hoch. „Aber ich hab doch gar nichts gemacht?"
Tia lächelte schief. „Du hast mir deinen Arm um die Schultern gelegt. Und auf einmal war da diese Ruhe in mir ..."
Der Vampir begann, ebenfalls zu strahlen. „Dann werde ich dir in Zukunft bei deinen Übungen helfen."
Kontrolliert wandelte das Mädchen die Krallen zurück, schloss Leon dann in ihre Arme.
„Sehr gerne. Zumindest für den Anfang wäre das bestimmt eine große Hilfe. Später muss ich es auch so können."

Samuel und Valentin saßen zusammen an dem noch immer improvisierten Schreibtisch.
„Giso hat gesagt, dass Tia von Tag zu Tag einen besseren Eindruck auf ihn macht. Nachdem sie neulich für zwei Tage gar nicht mehr am Fenster zu sehen war, hatte er noch berichtet, wie krank sie auf ihn gewirkt hat. Jetzt scheint sie nicht nur gesund zu sein, sondern sogar zu Kräften zu kommen", wandte sich Samuel sichtlich erleichtert an seinen Beta, der daraufhin leicht knurrte.
„Wahrscheinlich werden die ihr weiterhin Wolfswurz gegeben haben, diese Idioten. Zumindest bis vor wenigen Tagen. Ich wüsste nur zu gerne, was sie zu einem Umdenken bewegt hat."
„Das ist doch egal. Lass uns einfach froh sein, dass sie es getan haben." Samuel schüttelte leicht den Kopf.
„Natürlich, mein Freund. Aber wenn wir das wüssten, vielleicht könnte uns das weiterhelfen ..."
Noch bevor Samuel reagieren konnte, klopfte es an der Tür.
Erstaunt sah der Alpha auf, dann blitzten seine Augen freudig auf.
„Unsere Delegation, die bei dem westlichen Rudel war, ist zurückgekehrt", informierte er seinen Stellvertreter und bat den Wolf vor der Tür hinein.

Staubig und erschöpft von der anstrengenden Reise stand Keral vor seinem Alpha und dessen Beta.
Doch trotz der offensichtlichen Erschöpfung, blitzten seine Augen vor Begeisterung.
Samuel wies auf den Stuhl ihm gegenüber. „Ich nehme an, du bringst gute Neuigkeiten, Keral?"
Der Wandler nickte. „Das kann man wohl sagen."
Interessiert beugte sich auch Valentin nach vorne. „Dann erzähl."
Für einen Moment schloss Keral die Augen und atmete tief durch.
„Das westliche Rudel hat uns anfangs nicht sonderlich freundlich empfangen. Da ich schon damit gerechnet hatte, habe ich meiner ganzen Gruppe bereits im Vorfeld den Befehl gegeben, keinen Widerstand zu leisten, sollten sie uns angreifen. Bis auf Zeron haben sich auch alle daran gehalten. Ich war leider gezwungen, ihn etwas ... gröber ... an deinen und meinen Befehl zu erinnern."
Samuel knurrte unwillig. „Ich dachte eigentlich, ich hätte mich ihm gegenüber deutlich genug ausgedrückt. Die große Distanz muss dafür verantwortlich sein, dass er sich meinem Alphabefehl widersetzen konnte."
„Gut möglich." Keral nickte. „Aber rückblickend war seine Befehlsverweigerung sogar von Vorteil. Kaum, dass die Grenzpatrouille uns umstellt hatte, habe ich alle an meinen Befehl erinnert. Lediglich Zeron meinte, voranstürmen zu müssen. Noch bevor einer der fremden Krieger reagieren konnte, habe ich ihn selbst zu Boden gerungen und ihn in den Nacken gebissen. Das schien Ramos, den Beta des Rudels, imponiert zu haben. Wir wurden aufgefordert, uns zu wandeln, was wir alle getan haben. Danach wurden wir in ihre Höhlen geführt und einzeln eingesperrt. Meiner Bitte, Zeron zusammen mit mir einzusperren, damit ich ihn unter Kontrolle halten kann, hat Ramos nach kurzer Rücksprache mit seinem Alpha zugestimmt."
Valentin grinste leicht. „Ich bezweifle, dass Zeron das gefallen hat."
„Nicht wirklich", erwiderte Keral mit einem leisen Lachen. „Immerhin wusste er genau, dass er Mist gebaut hat und meine Strafe gefürchtet."
„Zu Recht. Wie ging es weiter?", brachte Samuel die Unterhaltung zurück zum eigentlichen Thema.
„Ich weiß nicht, wie lange wir dort in der Dunkelheit eingeschlossen waren. Aber mein Team hat sich die ganze Zeit ruhig verhalten. Selbst Zeron. Auch das schien der Führungsriege zu beeindrucken. Meiner Bitte nach einem Gespräch mit dem Rudelführer wurde anfangs jedoch nicht stattgegeben. Irgendwann haben sie uns Kleidung gebracht und mich aus der Zelle geholt. Der Alpha sei jetzt bereit, mich anzuhören."
Keral rieb sich leicht die Handgelenke. „Ich habe Zeron noch mal eindrücklich darauf hingewiesen, dass er sich ruhig zu verhalten hat, dann haben sie mich mit Silber gefesselt und zu ihrem Anführer gebracht. Der hat mich erst einmal eine ganze Weile schweigend angeschaut. Ich muss schon sagen, Anwar, so der Name des Alphas, hat selbst als Mensch eine sehr imposante Erscheinung. Er hat es tatsächlich geschafft, dass ich mich immer unwohler gefühlt habe."
Samuel grinste. „Das heißt bei dir einiges. Ich erinnere mich noch an deine Zeit als Halbstarker, wie oft ich bei dir meine Alphaaura einsetzen musste."
„Stimmt", Keral erwiderte das Grinsen.
„Auf jeden Fall ist Keral nach einer Weile auf mich zugekommen. Ich habe schon mit dem Schlimmsten gerechnet, aber er hat lediglich amüsiert auf mich hinabgeschaut, gefragt, ob die Silberfesseln denn nötig wären, und sie mir dann abgenommen. Und dann wollte er reden – oder besser gesagt: erfahren, warum ich in sein Gebiet eingedrungen bin. Ich habe ihm alles erzählt und er hat mir die ganze Zeit ruhig zugehört, ohne mich zu unterbrechen. Erst, als ich fertig war, hat er mir einige Fragen gestellt. Kurz darauf kam Ramos, den er wohl bereits per Mindlink über alles informiert hat, in den Raum und Anwar hat ihn beauftragt, meine Kameraden frei zu lassen und im Gästebereich unterzubringen."
Keral kratzte sich verlegen am Kopf. „Ich sah mich leider gezwungen, darum zu bitten, Zeron vorerst eingesperrt zu lassen – zumindest, bis ich mit ihm gesprochen hatte – da ich sonst nicht für seinen Gehorsam garantieren könne. Wir anderen durften uns im Bereich der Siedlung frei bewegen."
Samuel nickte nur. „Ich vertraue deiner Urteilskraft."
„Anwar und Ramos schienen nicht sonderlich erstaunt und meinten, solch übermotivierte Jungwölfe gäbe es wohl in jedem Rudel. Ich war wirklich froh, dass sie die Sache so entspannt sahen.
Am Abend haben sie dann ein Begrüßungsfest für uns gegeben, bei dem Zeron sich vorbildlich verhalten hat. Stellvertretend für dich hat Anwar mit mir den Freundschaftsbund geschlossen, den er jedoch mit dir erneuern möchte, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet.
Am nächsten Morgen hat er mich erneut zu sich gerufen, um mir seine Entscheidung mitzuteilen. Nach ausgiebiger Beratung mit dem Beta und seinen Ältesten haben sie sich entschlossen, uns nicht aktiv im Kampf gegen die Vampire zu unterstützen."
Verärgert schlug Samuel mit der Faust auf den Tisch.
„Wartet, Alpha." Keral grinste leicht.
„Sie haben mir eine andere Option aufgezeigt. Der König der Vampire hat eine Tochter, die ihm wohl ziemlich Schwierigkeiten macht. Vor einiger Zeit hat er sie auf eine besondere Schule geschickt, um sie dort erziehen zu lassen. Seine Späher haben Anwar berichtet, dass das Vampirmädchen in Kürze ihre Familie besuchen darf. Anwar hat zugesagt, dass sie die Kutsche überfallen, das Mädchen entführen und zu uns bringen. Somit hätten wir ein Druckmittel gegen Simon in der Hand."
Verblüfft sahen Samuel und Valentin sich an. „Das ist ja fast noch besser als der direkte Kampf."
„Das dachte ich mir auch. Anwar wird selbst dabei sein, wenn sie das Mädchen hierher bringen, und hofft darauf, mit dir den Freundschaftsbund bestätigen zu können.
„Das werde ich auf jeden Fall tun." Samuel nickte und wandte sich an seinen Beta. „Ich möchte dich bitten, in den Höhlen eine vampirsichere Zelle für die Blutsaugerin einzurichten."

Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die GeiselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt