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Eine geraume Zeit kniete Leon nun schon regungslos auf dem feuchten Waldboden. Während Giso, weiterhin in seiner menschlichen Gestalt, an einen Baum gelehnt Leon beobachtete, ließen die Wölfe ihn ebenfalls keinen Moment aus den Augen. Erst, als das Knien langsam unbequem wurde, begann der Vampir sich zu regen. Sofort lehnten die Wölfe sich weiter nach vorne und knurrten warnend.
Leon unterdrückte ein Seufzen und wandte den Blick zu Giso, der sich sogleich wachsam aufrichtete.
„Wäre es in Ordnung, wenn ich mich setze? Das Knien wird langsam etwas anstrengend."
Gisos Augen blitzten leicht auf. „So etwas bist du wohl nicht gewohnt", stellte er mit einem leicht sarkastischen Unterton fest. Dann nickte er jedoch. „Einverstanden. Bevor du meine Krieger durch dein Herumgezappel noch verrückt machst, setz dich meinetwegen."
Leon neigte dankend den Kopf. Ohne die Hände herunterzunehmen, ließ er sich zu Boden sinken und verschränkte die Beine.
„Du kannst die Arme meinetwegen runternehmen. Aber lass die Hände da, wo ich sie sehen kann."
„Danke."
Langsam und bedächtig ließ der Vampir die Arme sinken und legte die Hände mit nach oben gerichteten Handflächen auf den Beinen ab.

Wieder verging eine ganze Weile. Gerade wollte Leon erneut das Wort ergreifen, als Giso sich wieder aufrichtete.
„Der Alpha ist da", erklärte er schlicht.
Im nächsten Moment trat Samuel aus dem Schatten der Bäume.
Der Vampir neigte grüßend den Kopf. regte sich aber ansonsten nicht.
„Du bist also Leon", stellte Samuel fest.
„Richtig."
„Erwarte nicht, dass ich dich mit Prinz anspreche. Das werde ich nicht tun."
Leon grinste schwach. „Davon bin ich weder ausgegangen, noch ist es nötig."
Samuels Mundwinkel zuckten leicht. „Gut. Dann wäre das also geklärt."
Einen Augenblick lang musterte der Werwolf den Vampir schweigend.
„Du bist der Leon, der meinen Leuten den letzten Brief ... zugestellt ... hat?"
„Auch das ist richtig. Tia hatte mich darum gebeten."
Dieses Mal runzelte Samuel die Stirn.
„Warum sollte ein Blutsauger wie du, noch dazu der Sohn des Königs, der Bitte einer Werwölfin nachgehen?"
Leon zuckte leicht die Schultern. „Die Gründe sind schwer zu erklären. Ich verstehe es selbst nicht so wirklich und bezweifle, dass Ihr mir glauben werdet."
„Versucht es doch einfach", forderte der Alpha seinen Gefangenen süffisant auf.
„Seit die Krieger meines Vaters Eure Tochter auf die Burg gebracht haben, war ich von einer seltsamen Unruhe befallen. Diese wurde erst besser als ich vor Tia stand. Und auch sie war in meiner Anwesenheit deutlich entspannter. Mit der Zeit ... Nun, man könnte sagen, dass wir uns gewissermaßen angefreundet haben."
„Du hast recht, Blutsauger. Das glaube ich dir nicht." Samuels Blick wanderte hinter Leon.
„Lyn?"
Erneut trat die junge Frau in Leons Blickfeld. „Ja, Alpha?"
„Ist das der Vampir, der den Stein mit dem Brief geworfen hat?"
Ohne sich nach Leon umzudrehen, nickte die Wandlerin. „Ja. Das ist er."
Nachdenklich strich Samuel über sein Kinn. „Nun gut. Zumindest der Teil deiner Geschichte scheint zu stimmen."
Ohne Leon aus den Augen zu lassen, trat er einen Schritt näher auf ihn zu.
„Wie geht es meiner Tochter?"
Leicht hilflos zuckte dieser die Schultern. „Ich würde sagen: Den Umständen entsprechend gut. Aber ich kenne mich damit nicht aus. In der Nacht ihrer Wandlung war ich die ganze Zeit vor ihrer Zelle. Sie schien Schmerzen zu haben."
Samuel nickte nur. „Das ist normal bei der ersten Wandlung."
„Am Morgen hat Hauptmann Baran sie dann zurück in die Zelle gebracht, in der sie am Anfang war."
Samuel schien kurz zu überlegen. „Baran..." Dann nickte er. „Ein vernünftiger Mann, so wie ich ihn erlebt habe."
Leon lächelte. „Er ist ein guter Mann und mein Freund."
„Erzähl weiter."
„Mein Vater hat angeordnet, Tia Silberreifen anzulegen, damit sie sich nicht wandeln kann und geschwächt wird."
Ein Knurren von Samuel und den anderen Wölfen unterbrach den Vampir. „Silber. Du weißt selbst, was für Schmerzen das verursacht."
„Ja. Deshalb habe ich auch auf meinen Vater eingeredet. Ich konnte aber leider nur erwirken, dass ihr die Reifen an Händen und Füßen abgenommen werden und der Halsring nur zum Teil aus Silber besteht. Ich wollte auch, dass sie in die Zelle zurück darf, in der Ihr sie gesehen habt, aber darauf hat mein Vater sich nicht eingelassen.
Als ich heute Morgen mit Tia geredet habe, schien sie zwar geschwächt, aber sonst in Ordnung."
Samuel brummte leicht unwillig, nickte aber dann.
„Nungut. Giso hat mir zwar bereits berichtet, warum du hier bist, aber ich will es von dir selbst hören."
Leon lächelte schwach. „Ihr habt meine Schwester Helena. Ich möchte mich im Austausch für sie anbieten."
„Und was hindert mich daran, euch beide als meine Gefangenen zu behalten?"
Leon sah Samuel ruhig entgegen. „Nichts. In dem Fall bitte ich nur darum, zumindest Helena regelmäßig mit dem Blut zu versorgen, das ich mitgebracht habe."
Nachdenklich blickte der Alpha auf den Vampir, hob dann leicht die Hand. Kurz darauf standen zwei weitere Männer neben ihm.
„Ihr habt alles gehört, Anwar und Ramos? Was denkt Ihr?"
Amron blickte abschätzig auf Leon hinab. „Nehmt ihn mit und sperrt ihn zu seiner Schwester. Zwei Geiseln sind besser als eine."
Leon seufzte leicht auf, blieb aber ansonsten ruhig.
Ramos trat einen Schritt auf Samuel zu. „Dem Kerl scheint es wirklich ernst zu sein, Alpha Samuel. Selbst jetzt bleibt er ruhig."
Samuel nickte. „Ja. Dennoch will ich nicht riskieren, dass er den Weg zu meinem Dorf kennt. Ich trau dem Kerl zu, dass er den Weg wiederfinden würde, selbst wenn wir ihm die Augen verbinden. Habt Ihr noch eine der Phiolen?"
Mit einem Grinsen griff Ramos in seine Tasche und reichte Samuel ein Fläschchen.
Samuel betrachtete die dunkle Flüssigkeit, nickte dann.
„Das ist ein Extrakt aus Vampirkraut. Das gleiche Mittel, mit dem wir deine Schwester betäubt haben, als wir sie entführt haben." Mit einer knappen Bewegung aus dem Handgelenk war er die Phiole zu Leon, der sie geschickt auffing.
„Trink."
Leon betrachtete die Phiole einen Moment, entkorkte sie und roch an der bitteren Flüssigkeit. Reflexartig fauchte er leicht und verzog das Gesicht. Dann atmete er tief durch, setzte das Fläschchen an seine Lippen und kippte den Trank hinunter.
Das Letzte, was Leon hörte, war Ramos erstaunte Stimme. „Er trinkt es tatsächlich freiwillig."
* * *
Mit müden Augen sah König Simon seinen Besuchern entgegen und wies lediglich stumm auf die beiden Stühle vor seinem Tisch.
Jonathan nahm Platz und zog Nuri auf seinen Schoß. Nach kurzem Zögern setzte sich auch Baran hin.
Simon stützte den Kopf in die Hände. „General Liam durchforstet schon den ganzen Tag die Gegend. Aber keine Spur von Helena."
Die beiden Vampire sahen sich kurz an, dann ergriff Jonathan das Wort.
„Wir haben leider weitere schlechte Nachrichten, Hoheit", erklärte er ernst.
Der Monarch zuckte die Schultern. „Wie schlimm können sie schon sein in Anbetracht der Tatsache, dass meine Tochter in der Gewalt dieser Hunde ist."
Erneut wechselten Baran und Jonathan einen kurzen Blick.
Der Hauptmann schluckte schwer und sah den Hofmeister unsicher an. Dieser seufzte leicht und nickte dann.
„Es geht um Prinz Leon, Hoheit. Er ist verschwunden."
König Simon erstarrte. Dann begannen erst seine Finger, dann die Arme und schließlich der gesamte Körper zu zittern, bevor er den Blick mit vor Entsetzen geweiteten Augen hob.
„Nein. Das kann nicht sein. Er wird in seinem Büro sitzen."
Unsicher sah Nuri ihren Herrscher und Dienstherren an und drängte sich dichter an ihren Vater."
„Nein Hoheit", flüsterte sie. „Dort ist er nicht. Es ... es ist mein Fehler." Die Stimme des Kindes brach, als sie immer leiser wurde.
Wie in Zeitlupe drehte Simon den Kopf und sah Nuri an. Kurz blitzten seine Augen rot auf und Nuri zuckte ängstlich zusammen. Dann hatte der Vampir sich wieder unter Kontrolle.
„Warum denkst du, es sei deine Schuld, Nuri?"
Das Mädchen sah hilflos zu Jonathan und schluckte.
„Nuri trifft keine Schuld, Hoheit", warf er ein, stockte aber, als sein König warnend knurrte.
Nuri schluckte ein weiteres Mal und knetete nervös ihre Hände.
„Euer Sohn, Prinz Leon, war bereits den ganzen Tag anders als sonst, Hoheit. Er wollte auch nicht gestört werden. Aber ich hätte viel früher nach ihm sehen sollen, ob er etwas braucht."
Lange musterte Simon das verängstigte Kind, dann lächelte er milde.
„Nuri!", sprach er sie tadelnd an. „Ich dachte, wir sind lange über den Punkt hinweg, an dem du mich fürchtest."
Betreten senkte das Mädchen den Kopf, entspannte sich aber erst, als Jonathan ihr beruhigend über den Rücken strich.
„Außerdem muss ich mich bei dir entschuldigen. Ich bin aktuell nicht ganz Herr meiner Sinne. Es tut mir leid, dass ich dir dadurch Angst mache."
Verlegen hob Nuri den Blick und sah ihren Dienstherren an. „Ich... ich weiß, Hoheit."
Simon lächelte sacht.
„Dein Vater hat im Übrigen recht: Dich trifft keine Schuld. Wenn Leon nicht gestört werden wollte, war es richtig, dass du dich daran gehalten hast."
Nuri hob den Blick und wollte etwas einwenden, doch Simon hob abwehrend die Hand.
„Ich weiß, hättest du dich nicht an seine Anweisung gehalten, wäre sein Fehlen früher aufgefallen. Trotzdem hast du richtig gehandelt", erklärte er ruhig und wandte den Blick seinem Hauptmann zu.
„Habt Ihr die ganze Burg abgesucht?"
Der Hauptmann nickte. „Ja, Hoheit. Aber leider ohne Erfolg."
Erneut stützte Simon den Kopf in die Hände, schüttelte ihn verzweifelt.
„Was soll ich nur tun? Dieser verdammte Krieg." Abrupt hob er den Kopf und sah Baran an. „Sorg dafür, dass die Umgebung der Burg abgesucht wird. Die Krieger sollen nach allem Ausschau halten, was Rückschlüsse auf den Aufenthaltsort meines Sohnes gibt."
Der Hauptmann salutierte. „Zu Befehl, Hoheit."
Ruckartig wandte Simon den Kopf zu Nuri, als diese leise und unsicher ihre Stimme erhob.
„Hoheit?"
„Ja Nuri?"
„Le... Prinz Leon wollte heute früh zu Tia. Vielleicht weiß sie ja etwas?"
Die Augen des Monarchen weiteten sich. „Danke, Nuri."
Dann wandte er sich an seinen Hauptmann.
„Sobald Ihr die Krieger losgeschickt hast, bringt mir Tia her, Baran."


Die Julius-Chroniken - Teil 2: Die GeiselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt