Als ich heute zur Pause die Schule betrat, würdigte mich Emilia keines Blickes. Normalerweise grinste sie mich verschmitzt an. Aber heute ging sie einfach in die andere Richtung davon. Stirnrunzelnd sah ich ihr hinterher.
Ich dachte mir aber nichts weiter dabei und ging in meinen Klassenraum, um den Unterricht der Neuntklässler vorzubereiten.
Plötzlich hörte ich aus dem Nachbarraum einen lauten Knall. Erschrocken ließ ich die Kreide fallen. Besorgt ging ich nach nebenan. Als ich die Tür öffnete, entdeckte ich aber nicht meine Kollegin sondern Emilia. Sie hatte gerade einen Tisch umgeworfen. Entsetzt über das Bild, was sich mir bot, sah ich sie an.
"Emilia", sagte ich. Doch sie reagierte nicht. Sie schien mich gar nicht zu hören.
"Emilia!", schrie ich.
Sie drehte sich zu mir um, trat dann aber wutentbrannt gegen den nächsten Stuhl.
Ich lief zu ihr rüber und packte sie am Arm. "Emilia! Hör auf!", schrie ich.
Erst dann bemerkte ich die Tränen, die ihr über die Wangen liefen.
"Ich hasse das! Das alles! Dieses ganze beschissene Drecksloch!", schrie sie mir ins Gesicht.
"Ich weiß", sagte ich. Dann zog ich sie in meine Arme. Ich streichelte ihr über den Rücken und versuchte sie zu beruhigen. "Ich bin da", flüsterte ich. Als ob das irgendwie helfen würde.
Emilia senkte ihren Kopf auf meine Schulter. Eine ganze Weile standen wir einfach so dar. Nicht einmal das Klingeln nahmen wir wahr.
"Was ist passiert?", flüstertete ich und löste mich vorsichtig von ihr.
Mit dem Daumen strich ich ihr die letzten Tränen von den Wangen.
"Das ist alles so verfickt unfair", schluchzte sie.
"Emilia, du musst mir schon genau sagen, was los ist", sagte ich.
"Ich hasse das alles. Ich hasse, dass ich so bin wie ich bin. Warum ich?", fragte sie.
Ich verstand noch immer kein Wort. Wovon redete sie?
"Was ist passiert?", fragte ich erneut.
"Ich hatte heute Morgen Englisch", sagte sie.
Ich wartete darauf, dass sie weitersprach, tat sie aber nicht.
"Was ist in Englisch passiert?", fragte ich.
"Wir sollten ein Gedicht über Liebe schreiben", sagte sie.
"Und das hast du nicht gemacht?", riet ich.
"Doch. Aber das war so unfair. Emma hat so ein schlechtes Gedicht geschrieben. Sie hatte kein Reimschema, gar nichts. Und dafür bekommt sie 15 Punkte und obwohl ich ein richtig gutes Gedicht geschrieben habe, bekomme ich eine 6. Das ist so unfair", sagte sie. Sie biss vor Wut die Zähne aufeinander.
"Wie kann das sein?", fragte ich.
Emilia lachte spöttisch. "Das fragst du nicht allen ernstes, oder?", fragte sie.
Verwundert sah ich sie an. Was war mir in den letzten drei Sekunden entgangen?
"Du weißt es echt nicht?", fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
"Ich bin lesbisch. Deshalb hab ich eine 6 bekommen", sagte Emilia.
"Das kann ich mir nicht vorstellen", sagte ich.
"Soll ich meine Englischlehrerin zitieren? Eine Liebe zwischen zwei Frauen gibt es nicht und darüber zu schreiben ist abartig", sagte Emilia. Dabei verstellte sie ihre Stimme so, dass sie der meiner Kollegin sehr nahe kam.
Inzwischen kochte auch in mir die Wut. Ich konnte verstehen, warum Emilia Tische und Stühle umgeworfen hatte. Am liebsten würde ich das auch tun. Aber ich wusste auch, dass uns das keinen Schritt weiterbringen würde.
"So was kann sie doch nicht machen", sagte ich.
Emilia zuckte mit den Schultern. "Doch, kann sie. Weil sie Lehrerin ist und machen kann, was sie will", sagte Emilia.
"Ich red mit ihr und wenn das nicht hilft, geh ich zur Direktorin", sagte ich.
"Nein", widersprach mir Emilia.
Ich sah sie an und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Wenn ich das tat, wäre klar, dass Emilia mit mir geredet hatte und ich ihre Seite ergriff, was einige Fragen nach sich ziehen würde. Fragen, die wir beide nicht beantworten wollten.
"Wie kann ich dir helfen?", fragte ich sie.
"Oute dich. Wenn ich nicht die Einzige bin, dann wird es vielleicht weniger", sagte sie.
"Ich kann nicht, Emilia. Es tut mir Leid. Wenn ich das sage, dauert es genau zehn Minuten, bis wir auffliegen", sagte ich.
Emilia nickte.
"Wie gesagt: Ich hasse das alles", sagte sie.
"Ich werd mir was anderes einfallen lassen", sagte ich.
"Würdest du dich outen, wenn wir nicht...?", fragte sie mich.
Ich sah sie lange an. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihr darauf antworten sollte.
"Würdest du nicht", sagte Emilia.
Ich nickte. "Emilia, ich bin nicht lesbisch. Ich war immer nur mit Männern zusammen. An die Nacht mit dir kann ich mich nicht erinnern. Wenn überhaupt bin ich bi. Da gibt es nichts zum Outen", sagte ich.
"Du erinnerst dich nicht?", fragte mich Emila. Überrascht sah sie mich an.
"Nein. Du etwa?", fragte ich.
"Ja", sagte sie.
Ich sah sie lange an. Ich überlegte, ob ich sie nach der Nacht fragen sollte? Aber vielleicht war es besser nichts zu wissen.
"Soll ich deiner Erinnerung auf die Sprünge helfen?", fragte sie mich. Wieder einmal grinste sie schelmisch. Da war die bekannte Emilia wieder.
"Was?", fragte ich erschrocken.
"Ich kann dir zeigen, was wir in Vegas gemacht haben", sagte sie. Mit ihrem Zeigefinger fuhr sie über meine Lippe.
Wieder einmal entwich mir in ihrer Gegenwart ein Stöhnen. Scheiße! Wieso konnte ich mich nicht besser unter Kontrolle haben?
"Eins ist klar: hetero bist du nicht", sagte sie grinsend.
Dann knallte mir die Sicherung durch. Ich drückte sie mit aller Gewalt gegen die Tafel. Dann prallten meine Lippen heftig auf ihre. Ich merkte, wie überrascht sie war. So überrascht, dass sie widerstandslos meine Zunge in ihren Mund eindringen ließ. Sie versuchte mit mir um Dominanz zu kämpfen, gab sich aber schnell geschlagen. Triumphierend lächelte ich in den Kuss. Als sie ihre Hand unter mein Shirt wandern ließ, stöhnte ich an ihre Lippen, was sie in den Kuss grinsen ließ. Wie sehr ich ihre Arroganz hasste.
Schwer atmend lösten wir uns voneinander. Entsetzt starrte ich Emilia an. Was war hier gerade passiert? Wie hatte ich es nur so weit kommen lassen?
"Ich geh dann mal besser", sagte sie.
Leise schloss sie hinter sich die Tür. Ich blieb mit meinen Schuldgefühlen alleine zurück. Ich hatte nicht geglaubt, dass ich jemals so weit gehen würde und eine Beziehung mit einem Schüler eingehen würde. Oder noch schlimmer: Mit einer Schülerin. Wie konnte ich nur so tief sinken? Wie konnte es sein, dass Emilia etwas in mir auslöste, was sonst niemand geschafft hatte?
Dann erinnerte ich mich wieder an das Gespräch, das wir geführt hatten. Ich konnte nicht einfach nichts tun. Ich musste dafür sorgen, dass sie wieder gerne zur Schule ging. Also holte ich meine Tasche und machte mich dann auf den Weg zu Frau Behrendt.
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What happens in Vegas, stays in Vegas
RomansLeyla reist nach Las Vegas und verbringt dort eine verhängnisvolle Nacht mit der jungen Emilia. Am nächsten Morgen beschließen die beiden getrennte Wege zu gehen und nie wieder ein Wort über die Geschehnisse der letzten Nacht zu verlieren. Was aber...