Prologue

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Eric

Ich fliege.

Nicht wirklich, aber wenn man fällt, tief fällt, fühlt es sich fast so an, als würde man fliegen.

Ich strecke die Arme aus und spüre den Wind, der durch meine Kleidung peitscht und mir meine Haare fast vom Kopf reißt. Ein lautes Lachen kratzt in meiner Kehle und wird vom Wind genommen. Er hebt es hoch, bis es jeder hört. Ein befreites Gefühl legt sich um mein Herz und ich schmecke die Freiheit.

Ich konnte nie erklären, mit welchem Geschmack man Freiheit vergleichen könnte und um ehrlich zu sein, kann ich es immer noch nicht. Sie ist nicht süß wie überteuerte Jahrmarktszuckerwatte oder sauer wie eine Zitrone in einer eisgekühlten Limonade an einem heißen Sommertag. Sie ist alles und nichts. Sie ist Glück. Nein, sie ist tiefste Zufriedenheit.

Gus' Stimme dringt zu mir durch, während er mir seine Lieblingsversion von Ikarus und Dädalus vorliest.

Here is what they don't tell you:
Icarus laughed as he fell.
Threw his head back and
yelled into the winds,
arms spread wide,
teeth bared to the world.

Ich bin Ikarus. Ich falle und lache. Ich bin frei und habe aufgehört nur zu existieren, um wirklich zu leben. Ist es das, wonach wir alle wirklich streben? Hatte Angus Recht? Übertrifft Zufriedenheit jedem Glücksgefühl?

»There is a bitter triumph in crashing when you should be soaring«, hat er geflüstert und mich mir großen Augen angesehen. »Genau das möchte ich. Genau das brauche ich!«

»Zu fallen?«, habe ich dumm gefragt und er hat die Nase gekräuselt und angedeutet, mich mit seinem Notizbuch zu schlagen. Das tut er immer, wenn ihm jemand dumm kommt. Er nimmt den nächst besten Gegenstand und möchte jemanden damit erschlagen. Er tut es nur nie. Er ist mit sich selbst im Reinen.

Er hat sein kleines Lächeln hinter dem abgenutzten, vollgeschriebenen Bärchenbuch versteckt und leise gemurmelt, »Ich möchte mich frei fühlen, auch wenn es mein Untergang ist. Ich möchte von hier weg. Gehst du mit mir weg?«

Ich wünsche, ich hätte die Chance, ihm zu sagen, ich würde nichts lieber tun als das, aber ich habe es ruiniert und nun werde ich vielleicht nie wieder überhaupt die Chance haben, ihm meinen größten Traum zu beichten.

Ich wage es nicht nach unten zu sehen. Ich komme den Felsen immer näher und auch, wenn ich Angst habe, kann ich es kaum erwarten, auf ihm zu landen und alles zum Stehen zu bringen. Ich kann nichts mehr rückgängig machen, denn alles was passiert ist, ist passiert, aber wenn ich so auch nur eine kleine Veränderung bewirken kann, tue ich es.

Ich blicke hoch und sehe zum Himmel, bevor ich die Augen schließe und meine Gedanken sortiere, doch an alles, das ich denken kann, ist Gus. Gus, der andeutet mich zu schlagen, weil ich mich so dumm in alles verstrickt habe. Gus, der sich schüchtern hinter anderen versteckt, wenn jemand neues zu uns stößt. Gus, der keine Luft bekommt, wenn man ihn zum Lachen bringt. Gus, dessen trockene Lippen aufspringen, wenn sie zu lange geküsst werden. Gus, der meinen Namen schreit.

Ein sanftes Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Mein Herz klopft im Einklang mit Gus' Rufen. Ich würde mein Leben dafür geben, Gus wiederzusehen, aber ich gebe es gerade für einen denselben Grund auf.

Wenn Menschen sagen, sie würden für jemanden sterben, meinen sie es in den meisten Fällen nicht wirklich. Sie sagen es nur, weil ihre Gefühle überlappen und sie jemanden nicht verlieren wollen, der ihm ans Herz gewachsen ist. Selbst ich, habe diesen Satz unzählige Male erzählt, aber in einer schwierigen Situation hätte ich es wahrscheinlich nie durchziehen können. Nun bin ich in solch einer Situation und ich tue es. Wenn es die einzige Chance ist, dass alles wieder gut wird, tue ich es sogar sehr gerne. Nicht für mich. Nicht für ihn. Für uns.

Nicht mehr lange und ich werde am Felsen zerklatschen wie eine Fliege oder in Stücke gerissen werden. Ganz genau, weiß ich es nicht, aber das muss ich auch nicht.

Mein Überlebenstrieb sagt mir, ich sollte mich irgendwo festhalten oder mich in eine bessere Position bringen, um sicher im Wasser zu landen, aber ich kann und möchte nicht. Ich lasse mich komplett fallen. Ich entspanne meine Muskeln und denke daran, dass es so gut ist. Das es richtig ist.

Ich denke an Gus.

-///-Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt