Prolog: Die metaphorische Brücke

86 16 46
                                    

Februar 2099

Vereinigte Staaten von Osteuropa, Krasnodar, Krimbrücke 

Gab es eine Entschädigung für das miserable Urteil, geboren zu werden?

Ein Heilmittel für das überwiegende Leid, ein anderes Entkommen aus der lebenslänglichen Angst vor dem Sterben, als der Tod? Wenige wollten sterben, doch viele wünschten sich, nie geboren zu sein. 


Zumindest dachte die blonde Gestalt inmitten dieser katastrophalen Szene über das Sein.

Das Geschrei von Kindern und ihren Müttern, die Kommandosignale einheimischer Soldaten, das Rauschen von Kriegsjets;

Maschinen, deren Zweck einzig und allein der Zerstörung von einer Menschheit diente, um die andere Menschheit am Leben zu erhalten.

All dieser Lärm übertönte die Gedanken des blonden Mannes, ließen ihn nicht richtig handeln. Doch er war Soldat und dazu ausgebildet. 

Also humpelte er weiter. 


Im Hintergrund schrie eine verängstigte Frau, weinend und panisch. Wäre das rechte Trommelfell des Mannes nicht vor einigen Stunden geplatzt, hätte er sie wohl hören können. Er würde zu ihr laufen, ihr die Adresse des nächsten Schutzbunkers auf ihre Festplatte hochladen und bei der Rettung jemandes Leben beitragen. 

Doch dafür fehlte ihm mittlerweile nicht nur das Gehör, sondern auch der Wille. Sein Optimismus, seine Zuversichtlichkeit, seine Kraft;

Alles nahm, mit jeder Mine, die ausgelöst wurde, und jedem Schuss, der durch einen Leib gejagt wurde, um die Breite eines seidenen Fadens ab. 


Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch sehen konnte. Er sah Nebel, Gas und Feuer. Zertrümmerte Gebäude und verlassene Tiere, viele Hunde, die jaulend nach ihren Gefährten suchten. Er sah in den ergrauten Himmel. Es war kein strahlendes Grau, wie bei einem beeindruckendem Sturm, der sich über ein weites Feld zog, sondern eine dunkle, trübe Farbe. Der blonde Mann brüstete sich früher stets damit, graue Augen wie der Regenhimmel sein Eigen nennen zu können. 

In dem Moment wünschte er sich, dass der Himmel nie so grau geworden wäre. 


Er sah reglose Leichen. Das Blut setzte sich langsam nach unten ab, sodass sie die Farbe im Gesicht verloren. Dass das Gehirn nach dem Tod keine entsprechenden Signale mehr sendete, und Urin und Fäkalien durch den entspannten Schließmuskel austraten, erzählte einem niemand. Doch der halb hörende, junge Mann musste nun damit Erfahrung machen. Der bestialische Geruch von Ausscheidungen war nicht das Einzige, was seinen Geruchssinn bis aufs Äußerste reizte;

Er war umzingelt von stinkenden, biologischen Bomben, Tränengas und Rauch. 


Er sah auf dem Boden, zu seinen Stiefeln. Oder eher zu seinem Stiefel. Seine komplette linke Wade war abgerissen, einige seiner Finger schwarz gebrannt und er fühlte einzelne gebrochene Rippen, die ihm das Atmen erschwerten und das Laufen als unerträglich gestalteten. Hätte Sasha, sein einziger Freund der ihm verblieben war, ihm nicht das Gelenk abgebunden, wäre er wohl längst an Blutverlust verstorben. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch halbwegs denken konnte.

Aber das würde er nicht mehr lange können. Er verlor schon zu viel Blut, konnte sich allmählich nicht mehr bewegen, seine Waffe hat er verloren, seine Festplatte war zerstört und er stand auf der Krimbrücke, ohne jegliche Hilfe in Sicht. Nichtmal Sasha konnte er rufen.


Das war es. Das war das Ende. Erbärmlich und geschlagen ließ er sich auf den Boden fallen. Nicht einmal die Kraft und Reserven zum Weinen hatte er. Mit jedem schwachen Atemzug glitt das Leben mehr aus ihm raus.

Er würde einsam und langsam sterben, leidend. 

Er hätte seine Mutter vor dem Ende gern ein letztes Mal gesehen. Er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er mit ihr an einem anderen Ort gewesen wäre. Vielleicht hätten sie an einem Hof gelebt, an Bergen und Feldern. Vielleicht hätten sie Kleider aus Leinen getragen, sich um Ziegen gekümmert und sich die Haare wachsen lassen. Sie hätten ihre Tage mit Zufriedenheit verbracht, sich vor der Realität versteckend und vor dem Tod weglaufend. 


Der Blonde war nicht bereit zu nehmen, was ihm das Schicksal erteilte.

Sein noch funktionierendes, linkes Ohr alarmierte ihn vor schnellen Schritten, die sich annäherten.


Springerstiefel und eine dunkle, grüne Uniform. Deutsche Gegnerseite.

Würde er doch noch einen schnellen Tod geschenkt bekommen? 

"Gefallener Adel. Ein armes Kerlchen wie du ist es eigentlich nicht wert, den Amis ausgeliefert zu werden", hörte er die selbstgefällige Stimme, die seine Sprache sprach. 

In seiner besten Form hätte der junge Mann wohl einen Streit angezettelt. 

"Ich spreche deine Sprache besser als du meine", warf er dem Gegner trotzdem zitternd und keuchend zu. Er hörte, wie der Soldat seine Waffe zog und auf ihn richtete. "Du vergisst wohl, in was für einer Situation du steckst. Ich könnte dich hier aufschlitzen. Dann kannst du hier geduldig warten, bis die Ratten sich durch deinen vergifteten Magen fressen", knurrte er ihn ins Gesicht.


"Und trotzdem wären die Ratten bessere Gesellschaft als du", keuchte der Blonde, funkelte den Deutschen mit letzter Kraft hasserfüllt an.

"Und die Amerikaner brauchen mich", kläffte er noch ein mal.


Der Deutsche sah ihm plötzlich nur mitleidig in die Augen, holte mit seinem Gewehr aus und zog sie ihm kräftig über den Kopf. Der junge Mann hatte keine Chance, darauf zu reagieren. Er war bewusstlos, wenn nicht tot.


Der Deutsche schickte seine Koordinaten durch seine neuronale Cyberware, hob den jungen Mann auf und wartete auf einen Helikopter.

Identity: Lost PurposeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt