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Wincent

Wow. Dieses Weihnachten würde ich definitiv nicht mehr vergessen.
„Ich liebe dich", murmelte ich und küsste Anna.
„Ich dich auch", erwiderte sie, nachdem wir den Kuss beendet hatten.
„Geht's dir gut?", fragte ich.
„Mehr als gut. Danke für alles."
Ich zog Anna einfach nur in meine Arme, atmete ihren Duft ein und genoss einfach die Nähe. So lagen wir noch eine ganze Weile da, ohne irgendwas zu sagen.
Das Klingeln meines Handys riss mich aus dem Schlaf. Ich wollte eigentlich nicht rangehen, aber Anna wecken war auch doof. Also tastete ich nach meinem Telefon und nahm den Anruf dann doch an.
„Ja?", fragte ich leise, löste vorsichtig Annas Arm von meinem Oberkörper und verließ das Schlafzimmer.
„Winnie?"
„Mum." Ich war etwas überfordert. Wieso rief sie denn jetzt an? Hatte ich was vergessen? War etwas passiert? „Was gibt's?"
„Ich wollte nur wissen, wann ihr hier seid. Du hast nur leider die ganzen Nachrichten nicht gelesen", antwortete sie.
„Ähm, sorry. Wir sind nochmal eingeschlafen." Ich fuhr mir durch die Haare, denn obwohl mir wenig peinlich war, fand ich das ein wenig unangenehm. Gut, meine Mum sah mich zum Glück nicht, sonst hätte sie eins und eins zusammengezählt. Ich hoffte nur, sie würde es dabei belassen. „Ich schreib dir nachher, okay?"
„Alles klar. Dann bis später."
„Bis dann, Mum."
Ich atmete tief durch, dann legte ich das Handy auf den Wohnzimmertisch und ging ins Schlafzimmer zurück. Anna schlief noch, hatte sich aber bewegt, sodass die halbe Bettdecke nur noch neben ihr lag. Der Anblick erinnerte mich wieder daran, was vorhin passiert war und ich bekam sofort wieder Herzklopfen und ein fettes Grinsen im Gesicht. Hoffentlich bekam ich das bis nachher unter Kontrolle. Doch das Wissen, dass Anna mir nicht nur meinen eigenen Song, sondern noch mehr zu Weihnachten geschenkt hatte, versetzte mich in Hochstimmung. Den Teil des Geschenks behielt ich aber nur für mich alleine, denn das ging wirklich niemanden etwas an.

Annalena

Ich wachte durch sanftes Streicheln von meiner Schulter zur Hüfte auf.
„Guten Morgen, schöne Frau", murmelte Wincent und küsste mich.
„Guten Morgen", erwiderte ich, als wir den Kuss beendet hatten.
„Wenn wir noch zu meiner Familie wollen, müssten wir so langsam los."
„Mhm."
Gerade wollte ich gar nicht daran denken. Hier mit Wincent im Bett zu liegen, hatte auch seinen Reiz. Vor allem jetzt. Zwei Tage bei seiner beziehungsweise meiner Familie zu sein, erschien mir gerade eher unattraktiv.
„Okay", beschloss ich schließlich und stand auf.
„Nicht so schnell", kam es von Wincent und er zog mich zurück aufs Bett.
„Was?" Immerhin hatte er das doch gerade gesagt.
„Ich will noch einmal deine ungeteilte Aufmerksamkeit genießen", erwiderte er, bevor er mich leidenschaftlich küsste.
So würden wir ganz sicher nicht zu seiner Familie kommen, aber das war mir egal.
Mein Zeitgefühl war noch immer nicht ganz zurück, als wir schließlich doch im Auto saßen. Wincent erzählte mir unterwegs von seiner Mutter und seiner Schwester, dem Dorf, vom Ostseestrand und dem Meer. Ich hatte sie zwar schon einmal kennengelernt, aber ich war noch nie bei ihnen Zuhause. Ich war ehrlicherweise noch nie bei jemand anderem gewesen, also abgesehen von Lara. Doch nun lernte ich die Gegend und vor allem das Haus kennen, in dem Wincent aufgewachsen war. Das war einfach nochmal ein besonderer Moment in unserer gemeinsamen Geschichte.
„Bereit?", fragte Wincent, als er den Motor abgestellt hatte.
Fritz bellte auf der Rückbank schon fröhlich und ich nickte.
„Dann mal raus mit euch beiden", sagte Wincent und öffnete die Türen. „Ich hol noch kurz unsere Sachen."
Er gab mir Fritz Leine und als er sein Auto abgeschlossen hatte, gingen wir in Richtung Eingangstür.
„Anna! Winnie! Da seid ihr ja", begrüßte uns Shayenne direkt.
„Shay! Lass die beiden doch erst einmal reinkommen", hörte ich Angela rufen.
Ich musste schmunzeln, denn genau so kannte ich Wincents Schwester. Er hatte mir schon erzählt, dass sie nach dem Ausflug in den Kletterwald die ganze Zeit gefragt hatte, wann ich wieder vorbeikam. Sie schien mich sehr zu mögen und ich fühlte mich in dieser Familie auch nur absolut wohl. Von Anfang an wurde ich hier mit offenen Armen empfangen und das machte mich sehr glücklich.
„Hallo, Anna", begrüßte mich Angela, als wir unsere Sachen ausgezogen hatten und das Wohnzimmer betraten.
„Hallo Angela", erwiderte ich und genoss ihre Umarmung.
Im Wohnzimmer roch es nach Kerzen und Tanne und ich stellte mal wieder fest, wie schön die Weihnachtszeit war
Ich hörte noch, wie Wincent von seiner Mutter begrüßt wurde und dann spürte ich seine Hand in meiner.
„Komm, ich will dir noch meine Großeltern vorstellen", sagte er leise.
„Was?" Wieso hatte er mich denn nicht vorgewarnt?
„Keine Sorge, sie werden dich lieben", flüsterte er mir noch zu, während er mich durch den Raum führte.
„Oma, Opa", hörte ich ihn sagen. „Das ist Anna, meine Freundin."
Ich spürte Fritz direkt an meiner Seite und dafür war ich sehr dankbar.
„Ach und das ist Fritz, ihr Hund", ergänzte mein Freund.
„Hallo Anna. Willkommen in der Familie", wurde ich von Wincents Oma begrüßt und bekam eine herzliche Umarmung.
„Danke", murmelte ich leise.
Dann kam Wincents Opa und nahm mich ebenfalls in den Arm.

Wincent

Beim Anblick der liebevollen Begrüßung meiner Freundin, bekam ich ein noch wärmeres Gefühl im Bauch. Ich wusste nicht, ob meine Mum Oma und Opa erzählt hatte, dass Anna blind war. Wenn ja, dann interessierte sie es einfach nicht. Genau wie meine Mutter und Shay nahmen sie es einfach so hin und das zu sehen, machte mich mehr als glücklich.
Ich setzte mich zu meinen Großeltern auf die Couch und zog Anna auf meinen Schoß. So unterhielten wir uns eine ganze Weile, während Fritz auf meinen Füßen lag. Irgendwie schien das so seine Standardposition zu sein, wenn Anna und ich auf dem Sofa saßen. Vermutlich, damit er definitiv mitbekam, wenn wir aufstanden.
„Essen!", rief meine Mum irgendwann aus der Küche und so gingen wir alle Hände waschen und setzten uns anschließend an den Esstisch.
Es war so schön, wieder mit meiner Mutter, meiner Schwester und meinen Großeltern an einem Tisch zu sitzen. Das musste ich definitiv häufiger hinbekommen. Dass die Frau, die ich liebte, auch noch mit hier war, war mit das schönste Geschenk überhaupt. Sie passte hier einfach perfekt rein und es war ein bisschen so, als würden wir es seit Jahren genau so machen. Mir fiel sofort wieder mein Song ein, in dem ich genau das geschrieben hatte und wieder einmal entsprach es einfach nur der Wahrheit. Ohne dass ich es verhindern konnte, summte ich den Song vor mich hin. Ich spürte Annas Blick auf mir und als ich zu ihr sah, fiel mir direkt ihr Lächeln auf. Sie hatte den Song definitiv erkannt.
„Wincent", sprach mich mein Opa an und ich sah zu ihm. „Ich weiß, du singst fast immer und überall, aber dieser Leidenschaft kannst du später nachgehen."
„Sorry", murmelte ich und widmete mich wieder meinem Essen, was echt schwer war.
Immerhin ging der Ohrwurm nicht einfach so weg und meine Gedanken kreisten nur um diesen Song. Zum ersten Mal war ich froh, als wir vom Tisch aufstehen durften. Sogar das Abräumen, zu dem meine Mutter Shay und mich verdonnert hatte, war gar nicht so schlimm. Eher war es meine Rettung, denn so konnte ich endlich vor mich hin singen.
„Den hast du für Anna geschrieben, oder?", fragte mich Shay aus dem Nichts, während ich die Teller in den Geschirrspüler räumte.

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt