Emilia kehrte die Scherben auf. Porzellansplitter, die mal eine Tasse waren. Eine Tasse, die nicht besonders schön war. Insgeheim hatte diese Tasse in der Anrichte über der Küche nur darauf gewartet, von Emilia zu Boden geworfen zu werden. Herzen waren darauf gemalt, mit Edding oder halt einem Stift, der auf Porzellan schreibt. Das auf dem Porzellan schreiben war nicht das Problem, sondern, dass die Farbe hielt. Am Anfang war es ihr egal gewesen, sah ja schön aus, aber nach einigen Spülmaschinennutzungen blätterte sie ab. Das "Emilia" war kaum noch zu lesen, ein "Fn il a" ließ sich noch erahnen und das "Tobias" sah mehr nach einem "Tc ios" aus. Jetzt musste Emilia nicht mehr die abblätternden Namen ertragen.
Ein Streit gehörte in einer Beziehung eben dazu, sagte Tobias. Dass man sich anschrie und Türen knallte, das war normal. Man müsste danach nur wieder zusammen finden. Also Sex haben. Versöhnungssex. Das war ein ganz normales Beziehungsleben. Es war zu einer Routine geworden. Sie hatten sich daran gewöhnt, wie an die knallenden Türen und den griffbereiten Handfeger. Anders konnten sie Streits nicht mehr beenden. Oder konnten sie das je? Es war eine harmoniewiederherstellende Maßnahme. Mit Leidenschaft oder Genuss hatte der Geschlechtsverkehr nichts mehr zu tun. Scherben bringen Glück. Hatte diese kühne Behauptung jemals jemand überprüft?
Es ging nie um Eifersucht, nie darum, zu wenig Freiraum zu haben, nie darum, sich alleine zu fühlen. Sie hatte schon wieder vergessen, worum es genau ging. Irgendwas Banales, dass sie die Kaffeemaschine mal wieder nicht entkalkt hatte oder so. Es brachte auch nichts sich das zu merken oder darüber nachzudenken, denn es ging gar nicht darum, nicht wirklich. Es war wie immer nur ein Vorwand, ein konkretes Problem auf dessen Ebene sie ihre wahren abstrakten Probleme verhandelten, Probleme, die für sie unaussprechlich waren. "Ich fühle mich nicht mehr geliebt. Ich bin enttäuscht. Du schenkst mir zu wenig Aufmerksamkeit." Bevor einer der beiden das sagen würde, würden noch hundert Tassen darüber zerbrechen, dass die Mikrowellenabdeckung auf die Tischplatte tropfte, die Markise nach dem nassen Einrollen anfing zu schimmeln und dass nach dem Hundesitten alles voller Haare war.Emilia hatte Annette mal davon erzählt auf ihrem 32. Geburtstag nach ein paar Aperol Spritz, aber als ihre langjährige Freundin von einer Paartherapie anfing, hatte Emilia dichtgemacht. Sie waren doch keine Leute, die eine Therapie brauchten. Borderliner machten Therapie, Anorektiker oder Traumatisierte. Leute, die krank waren. Leute, die sie nicht mehr alle hatten, auf gutdeutsch gesagt.
Als Annette die Katze aus dem Sack gelassen hatte, dass sie selbst in Therapie war und es ihr dagegen half sich jede Nacht in den Schlaf zu heulen, hatte sich Emilia eigenartig fremdgeschämt für ihre Freundin, als Hüterin eines unaussprechlichen Geheimnisses, das sie lieber nicht gewusst hätte und schnell das Thema gewechselt.
Statt über Eherettung sprachen sie nun über Scheidungen. Fast 40 Prozent der Deutschen lösten ihre Ehen wieder auf, hatte Annette erklärt. Entsetzlich, hatte Emilia gefunden. Tendenz steigend, das sei etwas ganz Normales und es würde endlich Zeit, dass "Geschiedensein" kein Stigma mehr ist, hatte Annette erzählt und sich zur Untermauerung Belege bei Ecosia gesucht. Am schlimmsten seien ja geschiedene Paare, die davor noch ein Kind in die Welt gesetzt hatten, hatte Emilia hinzugefügt. Peinlich. Nein, so würden sie nicht werden. Hochzeit war der Point of no return und Emilia würde sich hüten, diesen mit Tobias zu überschreiten. Sie würde nicht das Gesicht verlieren."Hey." So fing es immer an. Hey. Tobias trat von hinten an Emilia heran, als sie auf dem Sofa lag und ein Buch las. Es klang liebevoll und sanftmütig. Er war wie ein Schauspieler, der in einem Moment eine Rolle spielt und in der nächsten Szene eine ganz andere. Sein Gesicht war weich. Nichts mehr zu sehen von den harten Falten links und rechts von seinem Mund, wenn er schrie, der krausgezogenen Stirn und den aufgerissenen Augen. Sein Gesicht war so verwandelt wie seine Stimme.
"Hey", antwortete sie, schaute kurz zu ihm hoch, in Wirklichkeit widerwillig, weil sie gerade mitten in einem Satz war. Er küsste ihre Schläfe und legte seine Hände um ihren Hals. Sie klappte das Buch nicht zu. Ließ sich liebkosen ohne jede Anteilnahme und las weiter, ließ sich von ihm in ihr Dekolletee fahren, ließ sich den Busen massieren, ließ sich küssen, am Ohr knabbern. Kein Problem. Dann klappte er das Buch zu, doch ihr Daumen ließ sie die Seite schnell wieder finden. "Lass mich", sagte sie und gab ihm einen kurzen Kuss.
"Emilia. Es tut mir leid, dass ich dich wegen der Kaffeemaschine angebrüllt habe."
"Mir auch. Also, dass ich sie nicht entkalkt habe, obwohl ich es dir versprochen habe." Hatte sie gar nicht, fiel ihr in dem Moment auf. Er hatte nur gesagt, sie solle es machen.
"Lass uns das vergessen." Er kniete sich nun neben sie und küsste sie auf den Mund.
Sie drehte den Kopf zur Seite, um weiter zu lesen. "Ich will nicht."
"Komm schon, Schatz. Lass uns einander wieder ganz nah sein. Nichts zwischen uns."
"Nein. Vielleicht später."
"Doch." Er nahm ihr das Buch aus der Hand, klappte es zu. "Ich war unmöglich."
"Du bist unmöglich." Sie war sich nicht mehr sicher, ob sie das nur gedacht oder gesagt hatte. Wenn sie es gesagt hatte, dann hatte es neckisch gewirkt, verliebt, vernarrt. So musste es klingen. So konnte es nicht klingen.
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Sollbruch
Short StoryIm Text dargestellte Meinungen geben (selbstverständlich) nicht unbedingt die Meinungen des Autors wieder.