„Ich begleite dich."
Samantha legte das Kleid, das sie für Lady Velton ausgebessert hatte, sorgfältig in den Transportsack aus festem Stoff und zog den Reißverschluss zu. Das Ratschen schwebte einen Moment im Raum, dann hob sie den Blick zu Ihrem Gatten.
„Du musst dich ausruhen, Richard."
„Das mache ich schon den ganzen Tag. Es geht mir gut." Er war aufgestanden und stand am Fenster. Interessiert blickte er einem gelben Auto nach, das am Ende der Straße zu schnell um die Ecke bog. Reifen quietschten und ein Fußgänger sprang zur Seite und schimpfte mit erhobener Faust dem Auto hinterher. Das kurze Zwischenspiel war schnell vorbei und er wandte sich wieder zu seiner Frau um.
Sie blickten einander an. Er gelassen, denn er hatte seine Entscheidung bereits getroffen, und Samantha eher skeptisch. Ihr war noch zu gut in Erinnerung, wie er am frühen Morgen auf dem Weg hierher zusammengebrochen war. Wie blass und krank er gewirkt hatte. Wie sein eigener Geist hatte er ausgesehen. Sie hatte sich Sorgen um ihn gemacht, aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es Richard im Zweifelsfall vorzog einen Rückfall zu erleiden, als vor Langeweile einzugehen. Er stand schon die längste Zeit am Fenster und war sichtlich neugierig auf die unbekannte, fremde Welt, die er sah. Er würde jedes Argument, das sie vorbringen konnte, wegwischen wie ein lästiges Insekt.
Sie seufzte. Das Fieber war gesunken. Das wusste sie, weil sie vorhin Fieber gemessen hatte. Er hatte in der Zwischenzeit eine große Portion Gemüsesuppe gegessen und die Schmerzmittel schlugen an. Das Antibiotika, das Ben ihm verordnet hatte, wirkte im Stillen. Richard sah inzwischen wirklich besser aus.
„Du weißt, dass es nur an den Schmerzmitteln liegt, dass du dich besser fühlst, oder? Kannst du dich nicht wenigstens bis morgen ausruhen?"
Er warf ihr einen liebevollen, etwas gequälten Blick zu. „Es ist nur ein kleiner Spaziergang, den Hügel hoch. Das werde ich schon überleben. Wir gehen den Weg ständig."
Samantha stieß einen tiefen Seufzer aus. „Sobald du dich schwach fühlst drehen wir um. Und wir gehen langsam."
Er lächelte. „Einverstanden."
Samantha ließ Richard nicht aus den Augen. Doch er bewältigte den Weg den Hügel hinauf problemlos. Als sie vor dem geschnitzten Portal des Herrenhauses anlangten, das einmal ihr eigenes gewesen war, und das schrille Klingeln in den Tiefen des großen Hauses verhallte, warf er ihr einen triumphalen Blick und ein halbes Lächeln zu. Er brauchte nichts zu sagen und Samantha brauchte nichts zu antworten. Ihr funkensprühender Blick sprach für sich und Richards Lächeln vertiefte sich dabei nur noch.
Lady Velton öffnete höchstpersönlich und klatschte erfreut in die Hände, als sie Samantha mit dem Kleidersack über dem Arm erblickte. Ihr leuchtend pinkes, weites Tunikakleid war sehr kurz und reichte ihr nicht bis zum Knie, aber sie war sehr schlank und konnte es tragen. Ihre Füße steckten in plüschigen pastellfarbenen Hausschuhen und ihr Haar war zu einem unordentlichen Dutt aufgesteckt.
„Mein Kleid! Das ging aber schnell. Kommen Sie rein, Samantha!" Sie winkte Samantha aufgeregt herein und nahm erst jetzt Richards Gegenwart wahr. Ihr Blick glitt angetan über seine großgewachsene Gestalt, während er sie mit einem ruhigen Ausdruck anblickte und grüßend den Kopf neigte. Seine höfliche Geste ließ Lady Velton kichern.
„Mein Mann, Richard, Lady Velton", stellte Samantha ihn vor und Richard deutete eine weitere kleine Verneigung an, die altmodisch gewirkt hätte, hätte er nicht wieder seine eigenen Kleider, bestehend aus einem dunkelbraunen Rock, helleren Hosen aus weichem Wildleder, Hemd, Weste, Krawatte und Schaftstiefeln getragen. So schien es für Lady Velton nur so, als wäre er voll in seiner Rolle für das Reenactment, das im Ort, dem Haus und im Park stattfand.
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Die Schatten von Ferywood
Historical Fiction~ Teil 2 der Ferywood-Saga ~ 1818 - Über 2 Jahre sind seit der schicksalhaften Schlacht von Waterloo vergangen. Richard und Samantha leben als Lord und Lady Velton in Paris. Sie glauben, die Vergangenheit und die Zukunft hinter sich gelassen zu habe...