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Wisst ihr, ich musste schon sehr früh erwachsen werden.
Wenn ein Kind mit dem Tot ihres Vaters, dem sie zwar nie sehr nahe stand, aber dann nur ein Jahr später auch noch mit dem Verschwinden ihrer Mutter konfrontiert wird, dann zerbricht etwas in ihm und es muss lernen auf sich allein gestellt zu sein. Das fiel mir extrem schwer, da ich immer sehr träumerisch, kindisch und naiv war. Ich glaubte immer daran einmal eine große Tänzerin zu werden, auf dem roten Teppich zu stehen, fröhlich und beneidenswert schön in die Kamera der Paparazo zu lächeln und mich mit Preisen überschütten zu lassen.
So war ich selbst mit zehn noch, denn wisst ihr, ich konnte einfach nicht auf einen Schlag erwachsen werden. Ich konnte nicht denken, dass Menschen schlecht sind und einen verlassen und verarschen. Ich war so dämlich die Welt zu betrachten als sei sie ein zauberhafter unschuldiger Ort.
Bis ich eines Tages, mit zehn, in den schwer depressiven Phasen meiner Tante, unbedingt auf eine Tanzschule gehen wollte. Meine Mutter hatte immer gemeint sie würde es mir zum zehnten Geburtstag schenken dort hinzugehen. Aber meine Tante meinte nur, dass das zu teuer sei und wir dafür kein Geld hätten. Aber das wollte ich nicht glauben. Es gab doch Gold am Ende des Regenbogens und so.
Ich hatte so lange rumgequengelt und gebittet, ich faltete die Hände zusammen und ließ mich auf die Knie fallen, ich wollte es einfach so unbedingt und meinte wie soll ich ohne Ausbildung denn zum Star werden?
Da verlor meine Tante die Kontrolle und schrie mich zum ersten und letzten Mal in meinem Leben an. Sie verzog ihr Gesicht, kam mit ihrem ganz nah an mein Gesicht ran, sodass ich ihren nach Salbei riechenden Mundgeruch einatmen konnte, und lachte mich aus. Wie soll aus dir etwas werden?, sagte sie. Du hast kein Talent, du hast kein Geld, du hast keine Unterstützung, ja du hast nicht mal eine Familie.
Sie brachte mich zum Weinen und das Einzige woran ich mich noch erinnere war, dass ich sagte ich dachte sie wäre meine Familie. Doch sie lachte nur und meinte meine Familie sei tot.
Tja und ob ihr es mir glaubt oder nicht, man hätte an diesem Tag genauso gut meinen achtzehnten Geburtstag feiern können. Ich redete nie wieder über meine Träume oder irgendwas, das ich mir wünschte. Wieso auch? Ich bin ein Nichts, dachte ich. Ein Niemand. Ich hatte ja nicht mal eine Familie.
Und so dachte ich auch als ich bei diesem "Fremden" im Auto saß. Wieso ich? Warum sollte sich jemand mit mir abgeben? Seit dem Streit mit Andrej hatte ich ja nicht mal Freunde.
Also saß ich da, während der Regen an den Scheiben herunter lief und auf die Windschutzscheibe prasselte und schaute Colton in diese zartbitterschokoladen-farbigen Augen.
Er lächelte sanft. "Komm schon. Wir brauchen dich."
Meinen Erfahrungen zufolge hätte ich "nein" sagen sollen. "Nein. Die Welt ist schlecht. Nein ich verbringe meine Zeit nur mit wohlhabenden Männern. Nein ich werde mich auf meine Zukunft konzentrieren..." und so weiter.
Aber anstatt daran zu denken, an das Vernünftige, dachte ich an meine Mutter. Wäre es nicht toll Nadja, die Tänzerin, Tochter von Maya, der Tänzerinzu sein? Mann, ich wollte einfach schon immer so sein wie sie.
Ich ließ den Gurt los mit dem ich nervös mit meinen Fingern gespielt hatte und sagte mit selbstbewusster und entschlossener Stimme: "Wann geht's los? "

Ich winkte Colton zum Abschied als er mit dem Wagen von dem Grundstück einer deutschen Familie weg fuhr. Ich lächelte süß und ließ das Lächeln sofort wieder fallen, als er hinter der nächsten Kreuzung verschwunden war und machte mich dann auf den Weg zu meinem wirklichen Zuhause. Gut, ich hatte ihn angelogen. Ich wollte ihm einfach nicht zeigen wo ich wohnte. Daheim angekommen kletterte ich durch mein Fenster in mein Zimmer. Ich schloss leise das Fenster und zwirbelte meine Haare aus da sie tropfnass waren, als mir auf einmal jemand von hinten die Hand auf den Mund legte. Ich riss erschrocken die Augen auf und atmete scharf ein als eine raue Zigaretten-geschädigte Stimme mir etwas direkt in mein Ohr flüsterte. Ich konnte den heißen Atem an meinen Hals spüren, der mir einen Schauder über den Rücken laufen ließ, als der Fremde sagte: "Du kannst nicht ewig von mir davon rennen Yaya."

Wut staute sich in mir zusammen als ich barsch seine Hand weg riss uns ihn mit vor Wut funkelnden Augen und zusammen gezogenen Brauen ins Gesicht sah. Es gab zwar nicht viel Licht im Raum, das einzige kam von den Straßenlaternen draußen, jedoch genug um sein fettes Grinsen und seine nass in sein Gesicht hängenden Haare zu erkennen. "Andrej, du Arschloch! Was fällt dir ein einfach so in mein Zimmer zu klettern? Es ist aus, okay? Aus! Hast du das jetzt endlich verstanden?!", rief ich aufgebracht flüsternd und wild gestikulierend während sein Grinsen immer breiter wurde.
"Ach komm schon Yaya, wir...", er streckte die Hand aus um meine Wange zu berühren. Ich schlug seine Hand weg und unterbrach ihn eine Spur zu laut.
"Nenn mich nicht so! Du hast kein Recht mehr dazu! Und wasch dir gefälligst deine Hände bevor du mich anfasst, du Mongo."
Er schaute mich verletzt an. Als ob das so eine Überraschung wäre, das ich nichts mehr von ihm wissen will!
"Yaya, ich weiß ich habe Fehler gemacht und dich falsch behandelt aber bitte gib mir eine Chance. Ich liebe dich doch." Er streckte wieder seine Hand aus um mich zu berühren, überlegte es sich aber in letzter Sekunde anders. Schlaue Entscheidung.
"Raus hier.", zischte ich und deutete mit dem Zeigefinger auf mein Fenster.
Er sah mir ungläubig in die Augen. Weinte er etwa? Gott, er war ja noch schlimmer als ich.
Schniefend lief er langsam zur Tür. "Ich werde nie aufhören um dich zu kämpfen Yaya. Du gehörst zu mir. Für immer und ewig." Bei den letzten Worten sprang er den einen Meter vom Fenster herunter.
Ich lief zum Fenster und rief in die dunkle Nacht hinaus, wo Andrej auf der Straße stand und zu mir hoch sah: "Du bist doch völlig gestört."
Schnell schloss ich das Fenster und legte mich auf mein Bett. Andrej schrie. Und zwar laut. Ich konnte es selbst in meinem Zimmer noch lautstark hören. Er schrie aus ganzer Seele voller Schmerz und Verzweiflung.
Und ich nahm mein Kissen und presste es mir aufs Gesicht und auf die Ohren um nicht mit anzuhören wie ich ihm wieder das Herz brach.



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