Kapitel 1

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4. November 2020. An jenem Novembermorgen schien im Habichtweg die Welt noch in Ordnung zu sein. Hinter dem Haus der Familie Viehmann schlummerte der Wald friedlich vor sich hin. Vor der Haustür auf der Straße hatten Bauarbeiter schon emsig mit der Arbeit begonnen.

Es war noch dunkel, als Faralda das Haus verließ. Es war mild für einen Novembermorgen, fast schon zu warm für ihren Wintermantel und den dicken Schal. Sie ließ den Blick durch die Straße schweifen, während sie auf ihre Mutter und ihren Bruder wartete. Ihre Mutter fütterte noch schnell die Kaninchen und ihr Bruder zog sich halb schlafwandelnd die Schuhe an. Das Auto ihres Vaters war bereits fort, er war vor ihnen zur Arbeit aufgebrochen. 

In den Gärten der Nachbarn regte sich nichts. Die Bauarbeiten hingegen konnte man nicht überhören. Sie wirbelten graubraune Staubwolken auf. Mit irgendwelchen Geräten brachen sie die Straße auf und würden sie bald wieder verschließen. Ganz genau wusste Faralda nicht, was sie an der Straße machten. Sie wusste nur, dass die Arbeiter seit Monaten schon jeden Morgen pünktlich anfingen und erst spät wieder Feierabend machten. In den Ferien riss der Lärm sie aus dem Schlaf, an Schultagen begannen die Arbeiten, wenn sie das Haus verließ. Klar war ihr nur, dass die Straße es bitternötig hatte. Seit Jahren schon hatte sie mit Rissen und Hügeln und Kuhlen im Straßenbelag wie eine Kraterlandschaft ausgesehen.

Faralda setzte sich hinters Steuer und richtete sich ein. Sie ahnte nichts Böses und konnte sich nicht vorstellen, dass heute etwas Schlimmes passieren könnte. Der weitere Verlauf dieses Tages sollte ihr recht geben.

Ihre Mutter machte es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich, sie würde später das Auto brauchen, um weiter zur Arbeit zu fahren. Konrad, Faraldas Bruder, nahm auf der Rückbank Platz. Konrad war optisch gesehen, die männliche Version seiner großen Schwester. Nur seine Haare waren um einige Nuancen heller, das lag allerdings daran, dass Faralda mit Haarfärbemitteln nachgeholfen und so ihre dunkelbraunen Haare in ein klares Rabenschwarz umgewandelt hatte.

Gerda, die Mutter, sah ihren Kindern kaum noch ähnlich. Nur auf alten Kinderfotos erkannte man die Familienähnlichkeit. Heute sah man ihr ihre 50 Lebensjahre an. Ihre grauen Haare waren kurz. Die dünnen Spitzen reichten vereinzelt zu den Schultern. Sie war von kräftiger Statur und hatte ein sanftes Gesicht. Wohl nicht jeder würde es so sehen, aber aus der Perspektive ihrer Kinder war sie der hübscheste Mensch auf dieser Welt.

Faralda warf einen Blick auf die Uhr, noch lagen sie gut in der Zeit. Dann startete sie das Auto. Im Rückwärtsgang ging es aus dem Stellplatz heraus, im Vorwärtsgang weiter bis zur Schule. 

Von Märchen und NovembergefühlenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt