Kapitel 9

5 3 0
                                    

Am nächsten Tag begegneten Filiz und ich Nils im Flur, als wir auf dem Weg zum Englischraum waren. Wir grüßten ihn und gingen dann lässig weiter. Filiz musste sich tierisch freuen, ihn schon so früh zu sehen. Der Tag begann gut für sie. Ich hatte noch immer nicht erwähnt, dass meine Mutter im Krankenhaus war. Ich wollte nicht von unschönen Dingen sprechen. Schließlich war ich hier, um mich auf die Schule zu konzentrieren. Doch vermutlich würde meine Mutter noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben müssen, sodass es Filiz irgendwann selbst auffallen würde und das würde für einen merkwürdigen Moment und ein merkwürdiges Gefühl sorgen. Aber es aus dem Nichts heraus einfach anzusprechen, würde sich auch komisch anfühlen.

Als die Pause begann, drehten wir die Stühle zueinander, sodass wir uns besser unterhalten konnten und holten unser Essen heraus. Das war ein guter Moment, um es anzusprechen. »Meine Mutter ist im Krankenhaus«, sagte ich platt heraus. Filiz sah mich erschrocken an. Ich erklärte, was an dem Tag passiert war und betonte, dass meine Mutter übern Berg war und es jetzt nur noch besser werden würde. Ein kleiner Schock blieb allerdings zurück. Ich hätte nicht über einen Tag warten sollen, es ihr zu erzählen. Aber gestern war ihr nicht danach. Außerdem hatte ich gestern keine Fächer mit Filiz gehabt und sie extra dafür anzurufen oder es ihr einfach zu schreiben, hätte sich komisch angefühlt. Ich hatte nicht das Gefühl gehabt, sie zu brauchen.

»Wie leistet man denn noch einmal erste Hilfe bei einem epileptischen Anfall?«, fragte Filiz sich. Sie hatte noch keinen Führerschein und auch den Ersthelferkurs dafür hatte sie noch vor sich. Ich hingegen hatte damals gelernt, wie man bei so einem Anfall reagieren solle. Theoretisch. Der Kurs war schon über ein Jahr her und ich wusste nichts mehr davon. Ich hatte gestern gegoogelt und mein Wissen so aufgefrischt. Bevor ich Filiz die Hinweise erklären konnte, mischte sich Lukas, der einige Tische von uns entfernt saß, ungeniert in das Gespräch ein.

»Ich habe gehört, man muss die Zunge rausziehen und einen Stift in den Mund stecken. Oder so ähnlich.« 

Filiz sah ihn schockiert an. Madeleine warf ihre Haare zurück und fügte sich auch in das Gespräch ein.

»Natürlich steckt man den nicht einfach so in den Mund rein. Man macht das irgendwie anders.«

Lasse, der vorhatte nach dem Abschluss Medizin zu studieren, konnte sich das Elend nicht länger anhören und führte kurzerhand einen theoretischen Ersthelferkurs durch. Auf keinen Fall fasst man jemanden in den Mund und steckt ihnen einen Gegenstand in den Mund. Viel wichtiger ist es Gegenstände, die gefährlich werden könnten aus dem Weg zu Räumen, den Betroffenen Platz zu machen, nach Möglichkeit einen gepolsterten Untergrund für den Kopf zu schaffen und vor allem für die eigene Sicherheit zu sorgen. Vieles, was er erzählte, musste während des Ersthelferkurses damals an mir vorbeigegangen sein. Nicht, dass ich damals besonders aufgepasst hätte. Ich wollte damals die Bescheinigung haben, die ich bei der Fahrschule vorzeigen konnte, mehr hatte mich nicht interessiert. Jetzt fragte ich sich, mit welcher Verantwortung man mich und die meisten meiner Mitschüler nach dem Abschluss wohl in diese Welt loslassen könne? 

Anschließend wurde es Zeit sich schöneren Themen zu widmen. Ich erzähle Filiz, dass Erik am vorherigen Abend bei mir war.

»Ach so«, sagte Filiz.

»Gut, dass er da war«, fügte sie dann hinzu, »er scheint dich ja echt zu mögen.« 

Filiz und ich warteten auf den Bus. Allmählich war das fast so etwas wie  unser Hobby geworden. Andere gehen auf Partys, wenn sie unter Leute kommen wollen. Und wir warteten, aus Mangel an Alternativen, auf den Bus. Wir hatten kaum noch Gesprächsthemen, nachdem wir heute so viele Fächer miteinander gehabt hatten. Wir blickten auf die Straße vor uns. Manchmal sah man Menschen vorbeigehen, die man kannte und lange nicht mehr gesehen hatte. Hinter den Masken und unter der Winterkleidung war es manchmal schwer, einander zu erkennen. Eben kam eine Frau in dunklen Jacken und enger Hose vorbei. Ihre Haare lang und schwarz und so geglättet, dass sie flach wie eine Isomatte waren. Die Hälfte des Gesichts war von einer Einwegmaske verdeckt. Über der Maske lagen große braune Augen, die von einer Menge Eyeliner, Lidschatten und falschen Wimpern umrahmt waren. Sie kam auf geradewegs auf uns zu. Also war es definitiv jemand, den wir kannten.

»Hallo Faralda!«, sagte sie. Da erkannte ich sie.

»Hallo Zeynep.« Sie blieb vor uns stehen, um Smalltalk zu halten.

»Wie geht es deiner Mama?« Ich zuckte mit den Schultern und bemühte mich dann zu lächeln.

»Besser. Sie ist immer noch im Krankenhaus, aber sie hat ihr Handy da und konnte mit ihr schreiben. Sie meinte, es ginge ihr gut, aber sie sei noch sehr müde. Ich hoffe, ich kann heute Abend mal mit ihr telefonieren.«

»Ja, das wäre schön. Das war ja ein Schreck mit ihr.«

Ich nickte zustimmend.

»Kommt ihr zurecht?« Sie wirkte sichtlich besorgt. Beim Reden rutschte ihre Maske immer wieder von ihrer Nasenspitzte. Mit ihren mehreren Zentimetern langen Nägeln zupfte sie, wie mit einer Pinzette, die Maske wiederholt hoch.

Ich versicherte ihr, dass bei uns alles in Ordnung war.

»Sag ihr gute Besserung von mir.«

»Ja, das mache ich. Danke.«

Filiz blickte auf ihr Handy.

»Der Bus ist immer noch nicht da«, quengelte sie. Ich blickte ihr über die Schulter, um ihr Handydisplay zusehen. Der Bus hatte schon zehn Minuten Verspätung.

Von Märchen und NovembergefühlenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt