Kapitel X

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Nach dem Essen möchte Finnick nach Riven schauen und etwas Zeit mit Annie verbringen, deswegen gehe ich alleine in das Fernsehzimmer.
An Tag acht folgen wir den Karrieros, die auf der Suche nach den letztem vier Tributen sind. Sie albern über ihre Zeit in der Akademie, während sie laufen. Seit der Junge aus zehn tot ist sehen sie nicht mehr so stark aus. Der Essensmangel setzt ihnen zu. Ich frage mich unwillkürlich, ob sie uns in der Arena genug Essen geben werden. Viele der Arenen haben entweder einen Mangel an Essen oder Wasser oder beidem, es heißt nicht umsonst Hungerspiele. In Distrikt Vier sind wir eigentlich immer gut mit Lebensmittel versorgt, im Notfall bevölkert der Urwald exotische Früchte, die wir essen können. Häufig fällt aber etwas vom Fischfang ab, das das Kapitol nicht braucht. Mit Wassermangel haben wir schon häufiger zu kämpfen. In einigen Sommern haben wir starke Hitzeperioden und müssen mit dem wenigen Süßwasser, das es gibt auch noch die Süßwasserteiche fürs Kapitol bewässern. Das Kapitol darf natürlich keine Missstände erfahren. In dieser Zeit kommt es zu unzähligen Hitzekranken. Würden wir nicht so unter Druck stehen, würde der ganze Distrikt stillstehen. Meistens wird die Zeit in der Akademie dann verkürzt, damit wir die älteren und schwachen in der Fischproduktion ersetzen könne.
Die Karrieros auf dem Bildschirm haben solche Notsituationen vermutlich nicht. Nahrung bekommt zwei vom Kapitol und Wasser aus riesigen Seen. Außerdem ist es dort generell kälter als in vier, wodurch es selten Dürren gibt.
Ich beschließe etwas vor zu spulen, als nichts passiert und ich den Anblick der Karrieros nicht mehr ertrage. Mein Vater und Taylin werden kaum gezeigt. Das Bild ist schon deutlich dunkler geworden, als die Karrieros anfangen zu rennen. Sie haben den Jungen aus elf entdeckt und jagen ihm durch den Dschungel hinterher. Er rennt direkt in Richtung der Felsformationen auf der Nordseite der Insel. Dort verlieren die Karrieros ihn. Wir als Zuschauer wissen, in welchem schmalen Felsvorsprung er sich versteckt. Die Karrieros lagern ganz in der Nähe. Kaum fünf Meter entfernt. „Ich hoffe, wir finden den kleinen Bastard bald, ich will endlich wieder etwas richtiges essen“, murmelt das männliche Tribut, während er auf ein paar Algen herumkaut. Das weibliche Tribut nickt zustimmend.
Lucius erinnert uns an diesem Abend, dass wir schon kurz vor dem Vulkanausbruch stehen.
Am nächsten Morgen sehen wir wieder Milly aus Distrikt drei. Sie steht immer noch am Rande des Vulkans, die Lava ist bereits beängstigend näher gekrochen. Sie will gerade ihre Sachen zusammenpacken, da wird die ganze Insel vom einem Beben erschüttert. Ein schmaler Spalt tut sich auf. Milly stolpert und fällt ein paar erschreckende Sekunden in den Krater herab. Ich kneife die Augen zusammen, dann ertönt die Kanone. Als ich die Augen wieder öffne, sucht sich ein kleiner Lavafluss den Weg nach unten. Er erreicht ein paar Bäume, die anfangen zu brennen und ein Feuer entwickeln, das sich schnell durch den ganzen Urwald frisst.
Wir springen etwas in der Zeit zurück und sehen Taylin und Gigi während die Erde bebt. Während das Mädchen auf dem Baum halten kann, rutscht mein Vater ab und stürzt hinab auf den Boden. Taylin springt sofort zu ihm herunter. „Alles okay?“
„Mein Fuß“, murmelt er und verzieht vor Schmerzen das Gesicht. „Ich glaube, er ist verstaucht.“
Taylin flucht. „Okay, pass auf, wir müssen schnell hier weg, ich riechen Rauch. Bei der Windrichtung heute breitet sich das Feuer in Minuten in unsere Richtung aus.“ Sie nimmt einen langen stabilen Stock und reicht ihn Gigi. „Nimm den und stütz dich auf meine Schulter. Wir müssen an den Strand oder wenigstens bis zum Fluss. Du musst die Zähne zusammenbeißen.“
Mein Vater nickt. „Keine Sorge, ich schaff das schon.“ Dann humpelt er schnell mit seinem Stock los. Durch Luftaufnahmen sehen wir, wie sich das Feuer unnatürlich schnell in Richtung der beiden ausbreitet. Vermutlich haben die Spielmacher ihre Finger im Spiel, wenn ja, wird es aber nicht weiter kommentiert. Taylin rennt jetzt vor, schaut sich aber immer wieder nach meinem Vater um. Der Rauch um sie herum wird dichter und dichter und schließlich kommen die Flammen und die Vögel, heute haben sie aber andere Gedanken als Menschenfleisch. Sie stoben auf und flattern in Richtung Meer. Mein Vater hustet und keucht, immer wieder wird sein Weg von Flammen abgeschnitten. „Taylin?!“, brüllt er in den Rauch. Es ist inzwischen kaum mehr etwas zu sehen. Sie antwortet nicht. Mein Herz beginnt in meiner Brust zu rasen. Ist das der Moment? Der Moment aus Tod und Verrat?
Doch da stolpert mein Vater eine Böschung herab und landet auf Sand, direkt vor dem Füllhorn. Er wirft seinen Stock von sich und rennt in Richtung des Wassers. Taylin ist dort, steht bis zur Hüfte im Meer. Sie sieht geschwächt aus und scheint sich übergeben zu haben. Sie starrt hinaus auf die Weiten des Horizont. Das wäre der Moment gewesen. Der Moment in dem er sie hätte töten können, selbst mit einem verstauchten Knöchel kannte er das Wasser besser als sie und war im Vorteil. Er hätte sie töten können und wäre nach Hause gekommen, aber er tat es nicht. Natürlich nicht. Keuchend und hustend stellt er sich neben sie. Hinter ihnen wird der Dschungel von den Flammen aufgefressen. Der ganze Himmel färbt sich dunkel von Rauch und Orange von den Flammen.
Die Karrieros bekommen das riesige Feuer zwar mit, sind aber in der kargen Steinlandschaft nicht davon betroffen. Sie suchen noch immer erfolgreich nach dem Jungen aus Distrikt elf.
Es ist dunkel und wir sehen, wie sich Taylin und Gigi ein Lager im Füllhorn bereiten. Mit so wenigen Tributen haben sie keine Angst mehr von den Karrieros angegriffen zu werden und wenn sie das Füllhorn noch für sich beanspruchten, wäre es längst zum Kampf gekommen. Trotzdem beschließen sie abwechselnd Wache zu halten.
Es ist fast dunkel, als die Karrieros ihr Opfer hoch oben auf einem Felsen erblicken. Sie beginnen den Jungen zu jagen immer höher und höher hinauf auf den Berg. Als wäre es geplant gewesen, erreichen sie das Lager von Milly kurz vor einem riesigen Knall um Mitternacht. Sie können sich kaum über das verlassene Lager wundern, da explodiert eine riesige Lavafontäne vor ihnen. Der Junge aus elf wird wir eine Puppe durch die Explosion nach hinten geschleudert. Er überschlägt sich ein paar Mal, rollt den Abhang herunter und stürzt dann eine Schlucht herab. Seine Kanone ertönt umgehend, solch einen Sturz kann er nicht überlebt haben. Vermutlich besser, als von den Flammen verbrannt zu werden. Der Junge aus zwei wendet sich sofort ab und sprintet den Berg herab. Das Mädchen steht wie zu Eis erstarrt da und sieht dabei zu, wie die Lava über den Rand tritt und um sie herum überall Steinbrocken einschlagen. Als die Lava nur noch ein paar Meter von ihr entfernt ist, läuft sie los. Viel zu langsam. Zum Glück zeigen sie nicht, wie sie stirbt, als ihre Kanone ertönt, sehen wir wieder dem Jungen aus ihrem Distrikt zu. Es sieht aus, als würde er Weinen, es könnte sich aber auch um eine Reizung der Augen durch die Asche und den Rauch handeln. Zugleich murmelt er immer und immer wieder: „Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid.“
Schließlich erreicht er die Asche des Waldes, doch Steinbrocke explodieren neben ihm und treffen ihn schwer an allen Gliedmaßen. Trotzdem läuft er irgendwie weiter voran bis er stolpert und einfach liegen bleibt. Doch die Kanone ertönt nicht. Sie ertönt und ertönt nicht. Das Bild wechselt in die Vogelperspektive und erst, als die Lava den kleinen Fleck seines Körpers überrollt, ertönt die Kanone.
Willkommen im Finale der 54. Hungerspiele.
Taylin hält Wache, während das alles passiert. Sie sieht die riesige Explosion des Berges, doch sie weckt meinen Vater nicht, sie drückt ihm einen Kuss auf die Stirn und springt auf. „Es tut mir leid“, murmelt sie und rennt dann auf die Seite des Füllhorns und beginnt hinaufzuklettern.
Als die Kanonen erklingen, wacht mein Vater auf und sieht, wie die Lava den Berg hinunter stetig auf sie zufließt. Er reißt seine Augen auf, als er eins und eins zusammenfällt und Taylin nicht mehr neben sich sieht. Er läuft ebenfalls auf die Seite des Füllhorns und will heraufklettern. Doch der verstauchte Knöchel macht es ihm schwer, auf der glatten Oberfläche halt zu finden.
Taylin sitzt zitternd auf der Öffnung des Gebildes und presst sich die Hände auf die Ohren.
„Taylin bitte!“, fleht mein Vater und klammert sich fest, während die Lava näher kriecht.
Taylin nimmt die Hände von den Ohren. „Es tut mir leid, wir sind die letzten. Ich muss zurück. Ich muss.“
„Bitte! Bitte, Taylin! Lass uns fair kämpfen. Bitte!“ Die Stimme meines Vaters klingt verzweifelt, während er sich an das heiße Metall klammert.
Zögernd steht Taylin auf. Doch als die den Rand erreicht, beginnt der Boden um sie herum zu beben. Mein Vater verliert den Halt, ein Loch tut sich um das Füllhorn herum auf und Taylin… ergreift die abrutschende Hand meines Vaters.
Ihr Blick wandert zum Abgrund unter ihm, dann in seine Augen. Der Schweiß steht ihnen beiden auf der Stirn. Ich klammere mich haltsuchend an mein Kissen.
Sie schaut auf die Lava, auf den Abgrund, in die Augen meines Vaters. Dann kneift sie die Augen gequält zusammen. „Es tut mir leid, mein Sohn braucht mich.“ Sie blickt weg und lässt die Hand meines Vaters los. Er rutscht ab und stürzt in die Grube, doch die Kanone kommt nicht.
„Nein, nein, nein“, wispere ich, als ich sehe, wie die Lava beginnt in die Grube zu fließen. Wie in Zeitlupe kriecht sie auf meinen am Boden liegenden Vater zu. Taylin atmet hektisch, greift an ihren Gürtel, nimmt ihre Axt und wirft sie zielsicher auf meinen Vater, der erstarrt auf die Lava vor sich starrt.
Ich schlucke schwer, die Kanone ertönt.
„Meine Damen und Herren, die Siegerin der 54. Hungerspiele: Taylin Joe!“
Ich starre auf den Bildschirm, während die Bilder der Siegerfeier an mir vorbeirasen. Ich kann Taylin nicht hassen, wie sie mit leerem Blick dasteht. Aber ich kann ihr auch nicht verzeihen, was sie getan hat.
Ich frage mich die ganze Zeit, was sie getan hätte, wenn sie gewusst hätte, dass auch er bald ein Vater wird, der bald gebraucht wird?
Auch wenn für meine Mutte und mich irgendwie alles gut ausgegangen ist. Wir hatten immer Papa, der für uns da war, bis er es nicht mehr war. Und bis sie es nicht mehr war. Ich starre hinüber aus dem Zugfenster, als der Bildschirm schwarz wird. Meine Mutter hat ihre beiden großen Lieben verloren. So langsam verstehe ich, warum sie auch gegangen ist. Ich hätte es nicht ertragen können. Hätte mich verflucht gefühlt, vom Schicksal verfolgt. Ich spüre die Tränen in meinen Augen und wische sie weg.
„Ich verzeihe dir, Mama“, wispere ich, während ich aufstehe und mich strecke.
Die Tür geht auf und Finnick steht vor mir. „Ist es vorbei?“
Ich nicke stumm.
„Alles okay bei dir?“
„Erstmal schon, ja. Es ist vorbei, es ist alles gut.“ Ich bringe ein schwaches Lächeln hervor. „Ich gehe mich gleich für unsere Ankunft vorbereiten.“
Finnick nickt. „Gut, wenn was ist kannst du immer zu mir kommen.“
„Ich weiß, danke, dass du ein Auge auf mich hast.“
„Immer.“

Die Tribute von Panem - Eisige WellenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt