10. Kapitel

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Mavis

Obwohl ich diesem Kerl gegenüber saß und klar die Worte und Drohungen hörte, die er aussprach, hatte ich Schwierigkeiten, mehr als nur Bruchstücke von dem Inhalt wahrzunehmen. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Im Sekundentakt driftete meine Fokus immer wieder von unserem Gespräch ab und zu Phoebe.

Innerhalb des letzten Tages hatte ich versucht, Kingsley zu erreichen. Ich war noch am Leben und wollte wissen, was mit meiner Schwester passiert war. Ich hatte die Hoffnung, dass der Schmerz weniger wäre, wenn ich Klarheit über ihren Tod hätte. Allerdings musste ich feststellen, dass die Nummer von Kingsley nicht länger existierte und mir meine Fragen nicht beantwortet werden konnten.

„Und was für Dinge sollen das sein?", stellte ich die Gegenfrage. Mein Blick fiel nun wieder auf ihn zurück. Ich spürte, wie sich bei dieser Frage ein unangenehmes Gefühl in meinem Magen ausbreitete. Ich fürchtete mich vor seiner Antwort. Ich hatte Angst, dass ich mich wieder in einer ähnlich schlimmen Situation befinden würde wie damals in Gravecliff.

„Hauptsächlich Dinge, die nicht großartig anders sind als das, was eine Straßendealerin tut. Allerdings wirst du nur dort arbeiten, wohin ich dich schicke, und du verkaufst nicht an Fremde, sondern ausschließlich an meine Kunden", antwortete er. Ich dealte also weiterhin mit Drogen. Die Vorgehensweise klang fast so wie die von Felix. Dennoch war da ein Wort, das mich irritierte...

„Hauptsächlich?", fragte ich daraufhin knapp.

„Hin und wieder wirst du mich auf Veranstaltungen begleiten, auf denen ich Kontakte knüpfe. Wie heute Abend", ergänzte er, nachdem er einen Schluck aus seinem Glas nahm. Heute Abend? Mein Herz begann zu rasen bei dem Gedanken, dass ich in einigen Stunden direkt mit diesem Typen arbeiten sollte.

„Wie kann ich mir das vorstellen?", fragte ich erneut.

„Ich sage dir, wie ich es mir vorstelle. Du wirst gut aussehen und von Anfang bis Ende des Abends deinen hübschen Mund halten, außer ich fordere dich zum Sprechen auf", gab er diesmal bestimmter wieder. Sein stählerner Blick bohrte sich in meinen, während er sprach, und durch die Art, wie er diese Worte sagte, vermittelte er deutlich, dass es ihm nicht passte, dass ich diese Fragen stellte.

Obwohl da ein Teil in mir war, der ihm am liebsten gesagt hätte, dass er sich wegen dieser Aussage ficken sollte, tat ich es nicht, denn ich wusste nicht, wie ich diesen Kerl und seinen nächsten Move einschätzen sollte. Stattdessen blieb ich einfach stumm und richtete meinen Blick für einen Moment gesenkt auf die weiße Tischdecke. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde meine Aufmerksamkeit von dem unbenutzten Besteck, welches mit einem kleinen Abstand zu mir auf dem Tisch lag, auf sich gezogen. Mir wurde kotzübel bei dem bekannten Gefühl, das in mir aufkam. Dadurch, dass mir ein Mann sagte, was ich tun sollte, ohne selbst etwas dagegen unternehmen zu können. Ich war ausgeliefert. Schon wieder...

„Sehr gut, wir verstehen uns also", entgegnete er auf mein Schweigen, weshalb ich meine Augen wieder zu ihm aufrichtete. Ich war mir sicher, dass er durch meinen Blick wusste, was ich ihm gegenüber empfand. Dass ich ihm, auch ohne es auszusprechen, kommunizierte, wie sehr ich ihn verabscheute.

Er kippte den letzten Rest des Alkohols in seinem Glas und stellte es vor sich auf den Tisch, um sich daraufhin zu erheben. Dann griff er in die Tasche seiner Anzughose und zog einige Geldscheine hervor. Ohne seinen Blick von meinem zu lösen, nahm er drei davon und warf sie neben das leere Glas auf den Tisch. Er machte eine kurze Handbewegung in meine Richtung um mir zu deuten dass ich ihm folgen sollte, bevor er sich von mir abwendete und mit entspanntem Schritt durch das leere Lokal lief.

Als ich sah, dass er mir den Rücken zugewendet hatte, während er in Richtung des Ausgangs ging, griff ich so schnell und unauffällig wie möglich nach dem silbernen Tafelmesser. Hastig schob ich es, genau wie er es bei unserer ersten Begegnung getan hatte, hinten in den Bund meiner Jeans, unter mein Shirt und meine Jacke. Mit erneut rasendem Herzen und dem Versuch, meinen Atem so ruhig wie möglich zu halten, folgte ich ihm mit langsamen Schritten. Nachdem ich meine Aufmerksamkeit für einen kurzen Moment durch das Restaurant wandern ließ, sah ich, wie er an der gläsernen Eingangstür stehengeblieben war, um mir die Tür aufzuhalten. Seinen ernsten Blick hatte er wieder auf mich gerichtet.

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