10- In der Falle

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Die Gestalten, die sich am gegenüberliegenden Flussufer zwischen den Kürbispflanzen ankeiften und niederlegten, sahen unglaublich abscheulich aus. Wenn Thara nicht gerade erst aufgewacht wäre, hätte sie geschworen, in einem Albtraum zu stecken. Die Wesen waren von menschlicher Gestalt, sie waren durch die Dunkelheit nicht leicht zu erkennen, doch Thara stellte schaudernd fest, dass manche von ihnen verstümmelte Gliedmaßen hatten oder gar kopflos waren. Am liebsten hätte sie ihren Blick abgewandt und wäre schreiend weggerannt, doch etwas an dem Anblick fesselte sie, sodass sie ihre Augen auf die Szene vor ihr gerichtet ließ. Ihr Körper mochte auf den ersten Blick menschlich aussehen, allerdings waren es ihre Augen und ihre Stimmen, die Thara das Blut in den Adern gefrieren ließen. Und das im wahrsten Sinne des Wortes. Ihr wurde zitternd klar, dass die plötzliche Kälte von den Gestalten ausging und schlang den Mantel enger um sich. Ihre Augen waren tiefschwarz. Nicht nur die Iris und die Pupille, wie es bei Jaromir manchmal wirkte, sondern auch der Teil, der eigentlich hätte weiß sein sollen. In der Dunkelheit sah es aus, als hätten sie überhaupt keine Augen. Thara konnte sehen, dass es eine gemischte Truppe aus weiblichen und männlichen Soldaten war, soweit sie das anhand der Gesichtszüge und des Körperbaus dürftig definieren konnte. Was all die Gestalten einte, waren die gepanzerten schwarzen Rüstungen mit dem heulenden Wolf auf Helm und Brust.

"Droodias Soldaten." Sie schaffte es nicht, das Zittern aus ihrer Stimme zu verbannen. Sie sah aus dem Augenwinkel, wie Tinnuviel nickte. Sie wandte sich wieder dem Trupp zu. Dieser scherte sich nicht darum, leise zu sein. Stattdessen kreischten sie sich Befehle und Anweisungen über das ganze Feld zu. Zumindest klang es für Thara nach Befehlen, denn sie sprachen eine Sprache, die sie noch nie gehört hatte. Ihre Stimmen klangen fremd und die kreischende Tonlage und der Hall, den sie nach sich trugen, ließen sie geradezu dämonisch wirken.

"Aber was sind sie?", wisperte Thara.

"Sie waren vor allem eines, und zwar tot, und das hätten sie bleiben sollen." Unter Tharas abwartendem Blick fuhr Tinnuviel in kaum hörbarer Lautstärke fort.

"Du erinnerst dich an die Versammlung?" Thara nickte.

"Damals thematisierte ich es nicht weiter, aber du musst eines wissen. Es gibt Wesen in diesem Land, auf dieser Welt, die nicht an sie gebunden sind."

"So wie Elben?", hakte Thara nach. Sie wusste seitdem sie Kind war, dass Elben nicht so wie Menschen, Zentauren oder Zwerge sterblich waren, sondern ein ewiges Leben in Tarquinis führten. Sie waren von Natur aus zudem starke Kämpfer, doch selbst wenn sie durch äußere Einwirkung starben, ging ihr Leben in der Welt nach dieser einfach weiter, so besagten es zumindest die Lehrbücher in der Bibliothek ihres Vaters und so bestätigten es die Elben selbst. Tinnuviel schüttelte den Kopf.

"Nicht wie Elben. Diese Wesen, von denen ich spreche, sind sterblich. Allerdings ebenso wie das Volk der Elben nur durch äußere Gewalt. Doch diese Wesen, lass sie uns Zwischenweltler nennen, können aktiv entscheiden, zwischen den Welten zu wandeln. Wann immer sie wollen, können sie ihre Fähigkeit nutzen und eine andere Welt betreten. Ihr Körper ist gebunden an die jeweilige Welt, er stirbt praktisch, wenn ihr Geist die Welt verlässt, denn ihr Geist ist frei, sich zwischen den Welten zu bewegen."

Thara schwirrte der Kopf und selbst in der Dunkelheit musste ihr anzusehen sein, dass sie noch nicht ganz verstand, wie das mit den kreischenden toten Soldaten am Ufer des Carubas zu tun hatte. Also fuhr Tinnuviel flüsternd fort.

"Zwischen den Welten zu wandeln ist nur eine von vielen mehr oder weniger mächtigen Fähigkeiten, die jeder Zwischenweltler besitzen kann, aber nicht muss. Ich sagte damals in der Versammlung, König Tyrdan sei weder Elb, noch Mensch. Weder Zentaur noch Zwerg. Nun, Tyrdan ist einer der eben beschriebenen Zwischenweltler und eine seiner Fähigkeiten bezieht sich darauf, unruhigen Toten einen neuen Körper zu geben. Wobei man den Aspekt neu dabei relativ betrachten muss." Ihr Blick huschte zu den Kopflosen und zu denen, die ein paar Gliedmaßen weniger hatten. "Es bedarf wohl weniger Kraft, ihnen ihren ursprünglichen Körper einfach wieder zu geben. Im Gegenzug dazu sind sie mithilfe des Fluches zur Treue bis auf den erneuten Tod verpflichtet", fuhr Tinnuviel bitter fort. Thara bemerkte, wie angespannt sie ihre Fäuste um die dünnen Zweige eines Bäumchens geschlungen hatte und lockerte ihren Griff rasch, um das Blut in ihre tauben Knöchel zurückkehren zu lassen.

Des Königs letzter SchatzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt