9. Dornröschen

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Marc's Sicht

Seit dem Vorfall mit Lennox sind vier Tage vergangen. Paul und ich haben Tom und Stephan über den Vorfall informiert und unsere Kollegen ebenfalls gebeten, ein Auge auf den Jungen zu haben.

Wir sind uns alle nicht sicher, was da genau vorgefallen ist und ob diese Männer Lennox überfallen wollten oder welche Motivation sie dazu getrieben hat, unseren Kollegen in die Mangel zu nehmen. Auch die Verletzungen bereiten uns Kopfzerbrechen, denn genauso wie Oli, haben auch Tom und Stephan den Verdacht auf Misshandlungen geäußert.
Da wir so gut wie nichts von unserem Neuzugang wissen, können wir auch leider keine Verdächtigen in Augenschein nehmen. Bis auf seine Freundin wissen wir nichts über sein sonstiges Umfeld.

Sobald Lennox wieder zum Dienst erscheint, möchte Tom sich mit ihm unverfänglich unterhalten und versuchen, ein paar Informationen aus ihm herauszukitzeln.

"Marc, schwing die Hufe! Einsatz!", brüllt mir Paul vom Flur aus zu und beendet somit meine Grübelei.

Als wir die Kneipe betreten, ist die Schlägerei noch voll im Gange. Paul lässt einen lauten Brüller los: "POLIZEI KÖLN. JETZT HALTEN WIR ALLE DIE FÜßE STILL UND GEHEN MAL SCHÖN BRAV AUSEINANDER!"

Einer der beiden Schläger widmet sich kurz Paul's Ansprache und kassiert dafür, in dem unachtsamen Moment, eine Faust auf die Nase. Da dieser sich sofort abwendet und sich die Hände vor die Nase hält, schnappt sich mein Kollege den unermüdlichen Faustschwinger. Blitzschnell greift Paul nach einem der Arme und dreht diesen auf den Rücken des Schlägers. Während Herr Richter den gewalttätigen Mann belehrt, schaue ich mir das Opfer an. "Hallo Polizei Köln. Westernhoven mein Name. Wie sieht's aus? Ist der Riechkolben noch ganz?", der Herr entfernt seine Hände vom Gesicht und offenbart mir einen schönen roten Wasserfall. "Okay, sieht nicht danach aus... Hey, Sie!", ich winke mir den breit gebauten Mann, der teilnahmslos hinter der Theke steht, heran und löchere ihn sofort nach Informationen: "Erste Frage: Wurde ein Krankenwagen alarmiert?" "Ja!" "Gut. Was ist genau passiert?", will ich wissen und zücke nebenher meinen Notizblock, um später die Personalien zu notieren. "Steven, der da drüben bei ihrem Kollegen, wollte dem schlafenden Kerl an der Theke den Geldbeutel aus der Arschtasche ziehen. Konrad hat das mitbekommen und Steven klar gemacht, dass er das unterlassen soll. Was dabei rausgekommen ist, sehen Sie ja!", der Ausschankverantwortliche scheint recht unbeeindruckt zu sein, so ganz nach dem Motto: Beide Leben, damit ist doch alles gut!

"Okay, danke. Hat sich der Typ an der Theke weg gebechert oder war das Unterhaltungsprogramm so einschläfernd?", mein kleiner Scherz wird augenverdrehend kommentiert: "Was weiß ich. Der kam schon völlig fertig hier an. Nach drei oder vier Halbe hat er plötzlich da gepennt und ich habe ihn nicht mehr wach bekommen!"
Ein sehr schlechtes Gefühl macht sich in mir breit: "Atmet er denn noch?" "Denke schon. Farbe hat er mal noch im Gesicht!", wirft mir der Kerl fast schon desinteressiert entgegen, was mich sofort auf die Palme bringt, da mit solchen Begebenheiten nicht zu scherzen ist: "Na, sie sind mir ja ein Witzbold... Beten sie lieber das er noch lebt!" da ich mir den schlafenden Betrunkenen schnell anschauen muss, widme ich mich kurz meinem Schlägerei Opfer: "Könnten Sie dort hinten an dem Tisch bitte Platz nehmen? Ich würde nur kurz überprüfen, ob der Herr dort in Ordnung ist und dann klären wir den Rest". "Klar. Kein Problem!", näselt Konrad vor sich hin und verzieht sich in die hinterste Ecke.

"Paul, hast du alles im Griff?" "Jo! Ich bringe Kingkong mal schnell nach draußen, damit er sich abreagieren kann!" Als Bestätigung nicke ich meinem Kollegen zu und mache mich auf den Weg zum Dornröschen.

Der noch ziemlich junge Kerl hat seine Arme verschränkt auf dem Tresen abgelegt und sein Gesicht darin vergraben. Wird wohl wieder einer dieser Halbstarken sein, die ihre Grenzen nicht einschätzen können. Als ich neben dem Kerl stehe, rüttle ich leicht an seiner Schulter: "Guten Tag junger Mann, würden Sie mich denn mal bitte kurz anschauen?" Keine Reaktion. Ich streife mir einen der Handschuhe ab und kontrolliere den Pulsschlag am Hals. Zum Glück ist er vorhanden. Ich drücke den Kopf sanft auf die Seite und als ich das Seitenprofil erkenne, stockt mir fast der Atem.

"Versuch doch mal, ihn wach zu küssen. Vielleicht hilft es hahahaha." Paul kommt neben mir zu stehen und mustert ebenfalls das Seitenprofil. Einen kurzen Augenblick ist er ruhig und zieht dann scharf die Luft ein: "Sag mal, ist das unser Lennox?" "Ich befürchte schon.... LENNOX!", unser junger Kollege hängt da wie ein nasser Sack und lässt sich kaum aufrichten.
"Leck mich am Arsch... Der liegt doch im Koma, oder?" Paul stellt sich hinter Lennox und zieht diesen vorsichtig an den Schultern zu sich nach hinten, während ich den Kopf stütze, damit er nicht unkontrolliert umher wackelt.

"Rettungsdienst! Guten Tag!" Jacky kommt mit Florian im Schlepptau auf uns zugelaufen, worauf mein Kollege die beiden gleich zu Konrad verweist. Kurz darauf kommen auch Alex und Franco durch die Eingangstüre gerauscht und widmen sich uns, da unser komatöser Kollege zwischen Paul und mir jetzt doch ziemlich wenig Farbe im Gesicht hat.

"Hey, ihr zwei! Was habt ihr denn da für mich? War der auch in die Schlägerei verwickelt?" Herr Hetkamp mustert unseren Kollegen und verzieht leicht sein Gesicht. "Ne, der kam nach Aussage des Herrn hinter der Theke schon ziemlich fertig hier an, hat sich ein paar Bier reingeschüttet und ist dann einfach weggepennt. Das ist unser Kollege!", erkläre ich Alex, worauf er dem Kerl ein paar Mal mit Schmackes auf die Wange klopft.
"Mh.. Legen wir ihn mal kurz auf den Boden. Wie heißt er denn?", der Notarzt packt Lennox fest unter dem rechten Arm, was ich ihm auf der linken Seite gleich tue. Mit vereinter Kraft ziehen wir Lennox somit vom Stuhl und müssen wirklich enorme Kraft aufwenden, da Lennox keinerlei Muskelspannung mehr aufweist.

Als der Junge auf dem Boden liegt, setzt Herr Hetkamp einen Schmerzreiz auf dem Brustbein und scheint einen kleinen Erfolg zu erzielen, denn ein leises Brummen ist zu hören. Nach einer Wiederholung zucken die Augenlider und Lennox scheint wieder zu sich zu kommen. "Da bist du ja wieder. Na, wie fühlst du dich?", ich bezweifle fast, das irgendeine Antwort auf die Frage kommen wird, doch ein bisschen Gelalle bekommt er überraschenderweise doch über die Lippen: "Mussnach hause!"
"Nenene. Du gehst jetzt erstmal nirgendwo hin, außer mit mir in den Krankenwagen! Was hast du mit deiner Lippe gemacht? Die ist böse aufgeplatzt", erst als Alex den Kopf unseres Kollegen zur Seite dreht, sehe ich den blutigen Mundwinkel. "Weisnich!", nach diesen Worten hält sich der Bursche seinen Kopf fest. So wie der lallt, könnte man meinen, dass er das ganze Bierfass unter der Zapfanlage leergesoffen hat.

"Okay... FLO? Wie sieht es bei euch aus? Ich hätte hier einen Kandidaten für die KaS und ihr?" "Wir auch!" "Franco, forderst du nach? Ich schau mir kurz die Nase da hinten an und bin dann gleich wieder da! Versucht euren Kollegen wach zu halten!" Kurz nach diesen Worten verkrümelt sich der Notarzt zu dem anderen Patienten.
"Hey Lennox! Erkennst du mich?", da ich mir nicht sicher bin, wie zerstört seine Gehirnzellen sind, forsche ich nach, um seinen Zustand etwas besser einschätzen zu können. "Ja... Mag", brummt Lennox vor sich hin, was mich ermutigt, ein paar weitere Fragen zu stellen: "Sehr gut. Was ist denn passiert? Warum hast du so viel getrunken?" "Wailich habes nimmer aushalten un die macht.... mich so feddich!" Lennox ist kaum zu verstehen, aber das dieses Zuschütten nicht aus Langeweile, sondern aufgrund Verzweiflung geschehen ist, lässt sich dann doch recht gut schlussfolgern.
"Wer macht dich fertig?"
Lennox brummt vor sich hin und stöhnt ein paar Mal qualvoll auf, bevor er ein leises "Egal!" aus seinem Mund entweichen lässt.
"Nein, das ist nicht egal. Ist diese Person auch für deine blutige Lippe verantwortlich oder gar für die anderen Verletzungen, die Oli angesprochen hat?", vor lauter Euphorie dem Täter auf die Spur zu kommen, vergesse ich völlig die geringe Aufnahmefähigkeit meines Kollegen und überfordere ihn auch sofort damit. Der leere Blick signalisiert mir, dass er mit meinen Worten momentan nichts anfangen kann und ich mich mit meinen Fragen etwas zurückhalten sollte.
"Muss etzt heim!", stöhnend und mehr als wackelig versucht sich Lennox aufzurichten, doch genau in diesem Moment kehrt Alex zu uns zurück und drückt den Betrunkenen völlig unbeeindruckt auf den Boden zurück: "Liegen bleiben. Wir verfrachten dich jetzt auf eine fahrbare bequeme Unterlage. Gleich zur Info: Maulen bringt nichts, wir machen das auch ohne deine Einwilligung!"
Herr Hetkamp kennt heute keine Gnade, was in Anbetracht des hohen Alkoholspiegels unseres Kollegen vielleicht auch angebracht ist, denn sein Gehirn arbeitet sowieso gegen uns, ob wir ihm Honig ums Maul schmieren oder nicht.

Genau dann, als unser Lennox kurzzeitig wegdämmert, trifft Franco mit der Transportliege ein, auf die wir unser Dornröschen zusammen umlagern.

Hinter verschlossenen Türen; Die verborgene RealitätWo Geschichten leben. Entdecke jetzt