15. Schwach

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Völlig unerwartet werden meine Handgelenke umfasst. Da ich so ausgelaugt bin, komme ich nicht gegen die mir entgegengebrachte Kraft an und lasse den schraubstockartigen Griff schneller von dem Unbekannten lösen, als mir lieb ist.

Damit ich den Spott meines Gegenüber nicht ertragen muss, presse ich meine Augen so stark zusammen, dass ich lauter kleine Sternchen vor meinem inneren Auge sehe. "Lennox! Schau mich mal bitte an!", bringt mir Tom ganz ruhig entgegen, meine Handgelenke immer noch fest im Griff. Da ich keine Anstalten mache, meine Augen zu öffnen, führt Tom meine Hände seitlich meines Kopfes auf die Schreibtischplatte und wiederholt sich nochmal: "Lennox, schau mich bitte an!" Da ich merke, dass er nicht locker lassen wird, öffne ich dieses Mal meine Augen und erhebe meinen Körper in eine aufrechte Sitzposition.

Nachdem Tom meine Hände losgelassen hat, wische ich meine Tränen schnell mit den Handflächen weg und schaue anschließend zögerlich meinem Kollegen ins Gesicht. Dieser zieht sich jetzt den Stuhl vor dem Schreibtisch zurecht und lässt sich darauf nieder, ohne mich aus den Augen zu lassen. Seinem Blick kann ich nur schwer standhalten und schaue daher immer mal wieder an ihm vorbei.

"Möchtest du darüber reden?"
Mein Kopfschütteln dient als Antwort, da ich der Festigkeit meiner Stimme noch nicht traue. "Hör mal, wir merken alle dass dich das mit deinen ehemaligen Kollegen stark belastet. Du solltest nicht alles in dich hineinfressen, denn das macht es nicht besser. Ich kann verstehen, dass es unangenehm ist, darüber zu reden, aber ich bin mir sicher, dass es dir helfen würde. Wir stehen dir alle gerne zur Verfügung und hören dir zu, wenn du möchtest. Natürlich musst du dieses Angebot nicht annehmen, aber ich möchte, dass du weißt, dass es besteht!" "Danke!", flüstere ich vor mich hin, nicht im Stande mehr, als mit diesem einen Wort zu antworten. "Lass die Berichte Berichte sein. Die laufen nicht weg. Okay?" Dieses Mal nicke ich und atme tief durch. Mir ist es furchtbar peinlich, mich hier so schwach vor meinem Kollegen zu zeigen, aber ich schätze Tom nicht so ein, als wenn er sich das irgendwann mal zu einem Vorteil ausbauen wird.

Während ich noch wie gelähmt dasitze, sammelt Herr Mayer meine Sauerei vom Boden auf und legt alles auf den Schreibtisch zurück. Anschließend fordert er mich mit einer Hand an meinem Rücken auf, mich in den Umkleideraum zu begeben. "Bist du mit dem Auto da?" "Nein. Ich bin gelaufen!" "Dann warte ich auf dich und bring dich nach Hause!", dieses Angebot ist zwar nett gemeint, aber in Anbetracht meiner falschen Adresse, kann ich es keinesfalls annehmen: "Nein! Das ist wirklich nicht nötig. Die frische Luft wird mir sicherlich gut tun! Trotzdem danke! Warum bist du eigentlich noch hier?" "Hatte meinen Geldbeutel in der Umkleide vergessen.... Bist du dir sicher, dass du laufen willst?"  "Oh, okay. Ja, ich bin mir sicher. Bis morgen Tom!", mit diesen Worten verkrümele ich mich in den Umkleideraum und setze mich erst einmal auf einen der Stühle.

Mein komplettes Gesicht spannt und hinter meinen Schläfen beginnt ein verräterisches Ziehen, das die baldigen Kopfschmerzen ankündigt.

Vor der Türe sind Paul und Stephan zu hören, die sich mit Tom unterhalten. Das darauf folgende Lachen beschert mir eine Gänsehaut. Ich bin mir sicher, dass sie über mich lachen, da ich so ein Weichei bin und hier bei der Arbeit die Nerven verloren habe. Ein ätzender Schwall Übelkeit überkommt mich, den ich versuche wegzuatmen. Allzu lange darf ich mir jedoch nicht Zeit lassen, da Tom bestimmt nach mir schauen wird, wenn ich innerhalb der nächsten paar Minuten nicht im Flur erscheine.

Das erneute Auflachen zerschlägt meine Gedankengänge und zerrt mir wieder die Realität vor Augen: Lennox Kraut, der bemitleidenswerte Schlappschwanz. Der König unter den Versagern.

Mein Körper will sich einfach nicht mehr aufraffen, irgendeine Bewegung auszuführen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit schon verstrichen ist, doch die Stimmen im Flur sind schon längst verstummt. Tom's Worte drängen sich in mein Bewusstsein, wirbeln erneut meine Gedanken auf.

Darüber reden.... Diesen Fehler habe ich schon einmal begangen und habe auch postwendend die Quittung dafür bekommen. Solch ein Fehler wie bei Raimund und Malte passiert mir kein zweites Mal!

"Lennox?", eine Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und sorgt dafür, dass ich meinen Kopf der Türe zudrehe und Stephan fragend anschaue. "Alles okay?"
"Jaja. Alles gut!", damit ich nicht nochmal in ein Gespräch verwickelt werde, stehe ich endlich auf und fange an, mir mein Hemd aufzuknöpfen.
Heute stört es mich nicht, dass ich beim Umziehen einen Zuschauer habe, denn die restlichen sichtbaren Verletzungen sind bekannt und glücklicherweise sind keine neuen hinzugekommen.
Mein Kollege verzieht sich nach einiger Zeit doch wieder und lässt mich gedanklich wieder in einen Sumpf abdriften, der mich in jeglichen Selbstzweifeln ertrinken lassen möchte. Als ich gerade meinen letzten Schnürsenkel binde, fällt mir siedendheiß ein, dass ich Stella nicht über meine Überstunden in Kenntnis gesetzt habe. Da werden zuhause wieder "nette" Worte auf mich warten und mir tagelang unter die Nase gerieben. Da zählt die Tatsache eines leeren Handyakkus nicht.
Kurz überlege ich, ob ich überhaupt nach Hause gehen soll. Mir wird leider nur allzu schnell bewusst, dass ich gar keine andere Wahl habe, denn die Rache wird sonst schlimmer werden, als das, was mir jetzt eventuell bevorsteht. Außerdem wüsste ich nicht, wo ich hingehen sollte.

Als ich die Umkleide verlasse, höre ich ein paar Stimmen im Aufenthaltsraum. "Tschüss, bis morgen!", rufe ich einmal laut vor mich hin, da ich jetzt niemanden mehr ins Gesicht schauen möchte.
Die Gespräche verstummen und ich bin mir sicher, dass sie über mich geredet haben. Da ich daran jetzt auch nichts ändern kann, laufe ich ein paar Schritte schneller den Flur entlang und treffe im Außenbereich auf die kühle Abendluft, die ich gierig in meine Lungen aufnehme.

Stephan's Sicht

"Wie weit ist er?", will Tom wissen, als ich von der Umkleide zurückkomme und die Türe des Aufenthaltsraums anlehne.
"Bis gerade eben saß er total abwesend auf seinem Stuhl. Erst nachdem ich ihn angesprochen habe, hat er angefangen sich umzuziehen!" "Stephan, das gefällt mir ganz und gar nicht! Du hättest ihn vorhin erleben sollen.... Lennox ist fix und fertig. Aber er blockt total ab und lässt einen gar nicht an sich ran!" "Wundert dich das, nachdem seine Ex-Kollegen so eine Scheiße abgezogen haben? Das Vertrauen, falls er das überhaupt mal wieder zulassen wird, wird lange Zeit auf sich warten lassen. Ist ja auch irgendwie verständlich.... Ich hoffe, er kann wenigstens mit seiner Freundin offen darüber sprechen, denn sonst fällt er wirklich bald in ein Loch. Mich wundert es schon fast, dass er es überhaupt so lange ausgehalten hat!", ich fahre mir mit meiner Hand durch mein Gesicht und schüttle meinen Kopf. Solch eine Erfahrung sollte wirklich niemand durchmachen müssen und ich wünschte, dass unser Jüngster davon verschont geblieben wäre.
"Ich weiß nicht... Nach diesem Auftritt an der Weihnachtsfeier..." Tom hält kurz inne, da vom Flur ein "Tschüss, bis morgen!" zu hören ist. "War das jetzt Lennox?", meine Frage ist eigentlich total überflüssig, da sich außer ihm niemand umgezogen hat. Als ich die Türe öffne, um mich ebenfalls zu verabschieden, biegt er gerade um die Ecke und begibt sich ins Freie.

"Ist er schon weg?", will Tom wissen, was ich ihm leider seufzend bestätigen muss: "Mhm. Der ist so schnell gelaufen, als wenn der Teufel hinter ihm her wäre. Ach Mensch...."

Hinter verschlossenen Türen; Die verborgene RealitätWo Geschichten leben. Entdecke jetzt