Prolog

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Man lernt, einen aufkommenden Sturm zu umschiffen, um dem Tod zu umgehen. Doch auf dem Rücken eines Drachen kann man durch ihn hindurchfliegen.

Zum letzten Mal sitze ich auf dem großen Felsen, von welchem aus man die komplette Hauptstadt überblicken kann. Die sieben Sonnen gehen langsam unter und tauchen alles in ein rosa Licht. Um mich herum befindet sich dichter Wald und nicht weitab von mir fließt ein breiter Fluss. Langsam stecke ich meine Nase in den Wind und nehme die Geräusche des Waldes wahr. Die Bäume wiegen sich im Wind und scheinen ein Lied zu spielen, das ich nicht verstehe. Darunter mischt sich das Zwitschern der Vögel und das stetige Rauschen des Flusses. Zufriedenheit überkommt mich und ich lasse den Blick schweifen. Weit in der Ferne schimmern die fünf Turmspitzen der Akademie, welche fortan mein Zuhause sein wird, in den untergehenden Sonnen. Ich lache verbittert auf. Als ob ich jemals so etwas wie ein Zuhause gehabt hätte. Meine Eltern starben, als ich klein war. Und jetzt, wo ich mein zwanzigstes Lebensjahr erreicht habe, werden sie nicht miterleben können, wie ich endlich der Akademie beitrete. Jede Provinz besitzt ihre eigene Akademie. Genauso ist es jedem von uns gestattet, dieser beizutreten, sobald wir zwanzig sind. Dabei ist es egal, aus welchem Verhältnis wir stammen, denn jeder kann magisches Talent besitzen. Die Provinz Anghara, in welcher ich lebe, ist die größte im Reich der sieben Sonnen. Doch im Angesicht der Stadtbewohner bin ich ein niemand. Sie beachten mich nicht. Noch nicht ein Mal dann, wenn ich mich dazu gezwungen sehe, ihr Essen zu klauen. Welche Bedrohung scheint schon von einer jungen Frau wie mir auszugehen? Wohl nicht genug, dass sie sich gezwungen sehen, etwas gegen mich zu unternehmen. Sie sehen mich wohl wie eine Rattenplage an: nervtötend, aber nicht tödlich.

Seufzend puste ich mir mein rabenschwarzes Haar aus dem Gesicht und erhebe mich. Jenes Haar, aufgrund dessen ich gemieden werde. Meine Augen sind schwarz, meine Haut zu blass. Als Kind brach ich mir das rechte Bein, weswegen es verformt und kaum belastbar ist. Die Stadtbewohner haben sich einen ganz besonderen Spitznamen für mich einfallen lassen: Kranker Rabe. Doch trotz alledem habe ich bis zu diesem Tag überlebt und mich nicht nieder machen lassen.

Mein Blick verweilt noch kurz auf den Turmspitzen, ehe ich mich umdrehe und den Weg zu meinem Versteck zurück laufe. Es ist eine kleine, unterirdische Höhle, die mich im Winter warm hält und im Sommer dafür sorgt, dass mir nicht zu heiß wird. Ich vergewissere mich, dass niemand in der Nähe ist und steige langsam hinab, wobei mir der Geruch von Erde entgegenschlägt. Meine Eltern haben mir nicht viel hinterlassen. Der größte Schatz ihres Vermächtnises ist ein Buch, in dem die ganze Geschichte unseres Reiches niedergeschrieben ist. Der Einband ist rabenschwarz wie meine Haare und auf der Vorderseite prangt ein Drache. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Drachen. Manchmal habe ich die Gelegenheit, sie zu beobachten, wenn sie mit ihren Reitern auf Patrouillenflüge gehen. Wenn sie mit ihren Flügeln schlagen scheint die Luft zu erbeben. Ihr Feuer ist heißer als alles, was ich mir vorstellen kann und schaut man in ihre Augen, erzählen sie eine Geschichte, die hunderte von Jahre alt sein muss. Jeder Teil ihres Körpers ist in der Lage, einen Menschen zu töten, doch hat man sich einmal ihren Respekt verdient, weilt dieser ein Leben lang. Es spielt keine Rolle, ob man ein fähiger Magier ist, oder nur mindere Zauber beherrscht. Der Drache entscheidet, ob und an wen er sich bindet. Es muss ein atemberaubendes Gefühl sein auf dem Rücken eines Drachen durch die Lüfte fliegen zu können.

Auch wenn ich keinerlei Erinnerungen an meine Eltern habe, habe ich sie dennoch immer bei mir. Zumindest fühlt es sich so an, denn in meiner Brust scheint ein Feuer zu brennen, welches niemals erlischt. Gedankenverloren streiche ich über das Buch. Seitdem ich denken kann, hat mir der Wald immer das gegeben, was ich zum Überleben gebraucht habe. Und außerdem bin ich mittlerweile wirklich gut darin geworden, verschiedene Gifte und Heilmittel zusammen zu stellen. Wer weiß, vielleicht werde ich ab morgen den Weg der Heiler bestreiten? Ich hatte viel Zeit, um mich auf das vorzubereiten, was mich ab morgen erwarten wird. Meine Fertigkeiten mit dem Stock sind fast fehlerfrei geworden, sodass ich mich verteidigen kann, wenn mich jemand beheligen sollte. Das Defizit mit meinem Bein habe ich wettgemacht, indem ich es beim Trainieren schiene, damit es meinem Gewicht standhält. Doch ob ich Magie beherrsche, wird sich zeigen. Im ersten Jahr der Akademie wird unser Können unter Beweis gestellt. Die Schwachen werden nach und nach aussortiert, bis nur noch die Stärksten der Anwärter übrig bleiben. Alle, die es nicht schaffen, finden den Tod. Denn im Reich der sieben Sonnen gibt es nur eine Regel: Beschütze es oder stirb.

"Aideen!" Erschrocken fahre ich aus meinen Gedanken hoch und greife zu meinem Stock, der griffbereit neben mir liegt. Jace steckt grinsend den Kopf durch den Eingang, wobei ihm seine blonden Haare ins Gesicht fallen. Seufzend verdrehe ich die Augen. "Du sollst doch unser Codewort benutzen." Er fängt an zu lachen und Grübchen erscheinen auf seinem Gesicht. "Ach Aideen, wer soll dich denn hier bitte finden außer ich?" Dann steigt er zu mir hinunter und lässt sich neben mir nieder. Er greift nach meinem Buch und schlägt es auf. Die Skizze eines Drachen ist auf der Seite zu sehen. Seine blauen Augen sehen mich besorgt an. "Und du bist sicher, dass du zur Akademie möchtest?", fragt er mit gedrücktem Tonfall. Ich verstehe seine Bedenken. Jace ist mittlerweile vierundzwanzig, was bedeutet, dass auch er einst an der Akademie war. Er bestritt den Weg der Heiler, brach jedoch im zweiten Jahr ab, da er zwar das Zeug zum Drachenreiter gehabt hätte, er allerdings nicht bereit dafür war, sein Leben für das Reich zu opfern. Seitdem gilt er als Verräter und lebt verdeckt in einem kleinen Haus am Rande der Stadt. Wir begegneten uns, als er zum Wasserholen an den Fluß kam.

Ich nicke. "Ja, Jace. Mein Leben soll endlich einen Sinn bekommen. Ich bin es leid, wie ein Geist behandelt zu werden." Man sieht deutlich, dass ihm meine Antwort missfällt. "Verstehe. Dann lass mich zumindest nochmal einen Blick auf dein Bein werfen, bevor du mich morgen verlässt", sagt er seufzend und reibt sich über sein Gesicht. Langsam ziehe ich meine Hose aus und löse die Schienen, welche meinem Bein etwas an Stabilität geben. Er mustert es kurz und legt dann seine Hand auf meinen Oberschenkel. "Du weißt, dass ich es nicht vollständig heilen kann." Es ist eine Tatsache, keine Frage. Wenn man nicht den Weg eines Drachenreiters einschlägt, lernt man erst im dritten Jahr, sein volles Potenzial zu entfalten. Und da Jace sich dagegen entschieden hat, kann er nicht mehr als kleine Brüche und Wunden heilen, sowie Schmerzen lindern. Doch ich bin ihm dennoch dankbar, dass er die letzten zwei Jahre meines Leben an meiner Seite war. Immer wenn ich ihn brauche, hilft er mir. Wenn ich mich verletzt habe, heilt er meine Wunden. Wir sind nicht so etwas wie ein Liebespaar, aber ich fühle mich trotzdem mit ihm verbunden.

Auf mein Nicken hin schließt er seine Augen und zieht konzentriert die Brauen zusammen. Das vertraute Gefühl von Wärme erfüllt mich und mein Bein fängt an zu Kribbeln, so als ob unzählige Ameisen darüber krabbeln würden. "Sag mir, wenn der Schmerz nachlässt", presst Jace angestrengt hervor. Auf seiner Stirn glänzen bereits die ersten Schweißperlen und er zittert leicht. Sobald der Schmerz in ein dumpfes Pochen umschlägt, nehme ich seine Hand und entferne sie von meinem Oberschenkel. "Du hast genug für mich getan, danke." Dann lege ich meine Schienen und Hose wieder an, während Jace sich erschöpft an die Wand der kleinen Höhle lehnt. Seine Augen sind geschlossen, die blonden Haare kleben nass auf seiner Stirn und sein Atem geht schnell unter seiner grauen Robe, die verhindert, dass man seine Körperkonturen erkennt. "Hier, trink das", betone ich nachdrücklich und halte ihm ein Gefäß mit blauer Flüssigkeit hin. Über die Jahre habe ich herausgefunden, dass der Saft der Labibeere gemischt mit Wasser und Schwarzkraut eine Mischung ergibt, die körperliche Erschöpfung lindern kann. Jace schlägt ein Auge auf, nimmt mir den Trank ab und kippt ihn in einem Zug hinunter. "Du kannst hierbleiben, bis du dich erholt hast. Ich passe auf", versichere ich ihm und bin grade im Begriff, aus der Höhle zu klettern, da packt er entschlossen meinen Arm. "Ich werde dich morgen zur Akademie bringen. Nur bitte, bleib ein letztes Mal bei mir." In seinen Augen liegt ein so flehender Ausdruck, dass ich innerlich ins Wanken komme. Es ist ein Ausdruck, den ich noch nie zuvor in ihnen gesehen habe. Es liegt etwas Wildes und Warmes in seinem Blick, sodass ich gar nicht anders kann, als mich seufzend wieder neben ihn zu setzen. Er lehnt sich an mich und es dauert gar nicht lange, da schläft er mit einem Lächeln auf den Lippen ein. Vorsichtig lege ich ihn hin und bahne mir einen Weg aus meinem kleinen Versteck, wobei mir der warme Sommerwind entgegenschlägt. Denn so wie ich es ihm versprochen habe, halte ich wache und passe auf. Auch wenn es bedeutet, dass ich kein Auge zubekommen werde.

Drakon - Im Bann der Schattenfesseln Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt