Carolin
Ich würde jetzt am liebsten ein Blaulicht auf meinem Wagen platzieren. Das wäre bestimmt illegal, aber deutlich effektiver. Eine alte Frau schnauzt uns an, wir sollen doch nicht mitten über den Prager Hauptbahnhof fahren, doch ihre Rufe prallen an dem Weissen Lack meines Leichenwagens ab, und wir rauschen an ihr vorbei. Der Drang, meine Hand fest auf die Hupe zu drücken, breitet sich zusammen mit einem Anschub aus Nervosität in mir aus. Normalerweise holen wir die Toten von Altenheimen oder Krankenhäusern ab. Ich hatte schon immer Respekt davor, auch jüngeren Leuten einen letzten Dienst zu erweisen. Bei alten Leuten ist das was Anderes. Vor allem, weil sie meistens an einem natürlichen Tod sterben. Alea soll sich noch vor wenigen Minuten das Leben genommen haben.
Wir sind da. Ein rotes Absperrband hält Passanten von dem schrecklichen Anblick fern, der sich mir bietet. Meine Hände zittern, als ich mich in die Kälte zwinge, die mich draussen empfängt. Mikkel wirft mir einen Blick zu, den ich nicht ganz deuten kann. „Sie ist ohne Zweifel tot. Jedenfalls hoffe ich das für sie..." Ich stimme ihm zu. Einerseits ist Mikkel heute der Leichenbeschauer, und andererseits sind die einzelnen Glieder nur durch Mühe zu erkennen, von einem Gesicht ist nicht mehr die Rede, man kann nicht einmal unterscheiden, was zum blutbespritzten Bahnsteig, und was zur Leiche selbst gehört. Wenn Alea jetzt noch lebt – das will ich mir wirklich nicht vorstellen. Und selbst wenn nach dem Tod nichts kommt, ist es wesentlich schöner, als in Aleas zerstückeltem Körper weiter zu leben. Panik steigt in mir auf. Wie soll ich ihren Leichnam von den Gleisen holen? Schaffe ich das überhaupt, ohne in mich zusammen zu brechen oder mich zu übergeben? Mikkel sieht meinen Anflug von Angst offenbar, denn er bietet mir seine Hilfe an, obwohl ich weiss, dass es ihm schwer fällt. „Ich bin dir was schuldig...", murmle ich ihm zu.
Vorsichtig nähere ich mich dem Gleis. Zusammen mit Mikkel trage ich eine Liege, auf der wir die Bestandteile ablegen. Schweiss hat sich zwischen meinen Händen und den Gummihandschuhen gebildet, doch ich ignoriere ihn vollkommen. Keines ihrer Körperteile befindet sich auf dem Bahnsteig, sodass wir auch nicht lange suchen müssen.Mit einem letzten Blick auf die Gleise schliesse ich den Kofferraum. Mikkel ist grade damit beschäftigt, die Bahnstrecke mit einem Hochdruckreiniger zu säubern. Am Ende hält der Körper doch eine Menge aus. Selbst wenn er von einem Zug mit rund 670 Tonnen zerdrückt wird. Alea muss wohl oder übel eingeäschert werden. Zum Glück müssen wir dank Zeugen nicht mehr herausfinden, wer Alea ist, denn selbst ihr Nachname ist uns bekannt. Unter einem den Zeugen befand sich auch ihre beste Freundin, die es um jeden Preis hatte verhindern wollen, wobei der Zug ihren Fuss zerquetscht hatte. Sie blieb dabei erstaunlich unversehrt, und bekam sofort Hilfe von einem Passanten.
Ich lehne mich gegen den Wagen, wobei meine schwarze Jacke eine fette Blutspur auf den Lack abfärbt. Meine Hände zittern, als ich die Nummer Aleas Familie auf meinem Handy abspeichere und anrufe. Zwei Sekunden später nimmt ihre Mutter ab. „Svevic?" Noch hört sich die Stimme der älteren Frau an, als wäre sie grade dabei, das Abendessen mit Curry zu würzen, ihr Bett zu beziehen, oder mit ihrem Hund draussen spazieren zu gehen.
„Hallo, ich bin Carolin Wiesmeier vom Bestattungsamt Praq" Als sich am anderen Ende Stille ausbreitet, fahre ich mit meiner Nachricht fort. „Ich bedauere, ihnen mitzuteilen, dass sich ihre Tochter heute Abend um 18 Uhr 36 am Prager Hauptbahnhof das Leben genommen hat. Sie hatte wahrscheinlich zu viel getrunken." Ich kann mir ganz genau vorstellen, wie sich Frau Svevic grade fühlt.
Taub. Überfüllt mit Gedanken, und zugleich leer. Unsicher, was man noch glauben kann, und wie es jetzt noch weitergehen soll. Langsam überrollt einen die Tatsache, dass man vielleicht damit gerechnet hatte, aber um Himmels Willen nicht heute. All diese Dinge, die man noch hätte sagen, oder tun sollen. Und jetzt ist es vorbei. Ein für alle Mal. Wie oft hatte man sich gesagt: „Ach komm, ich schenk's ihm morgen", oder „wenn ich genug Französisch kann, sag ich ihr, dass sie immer der erste Grund war, für drei Stunden ins Wallis zu fahren", obwohl man auch einfach einen Translator auf dem Handy hat. Danach fängt man an, Briefe zu schreiben. Briefe, die nie geschrieben wurden, um geöffnet, oder von echten Augen gelesen zu werden. Vielleicht fängt man auch an, mit den Verstorbenen zu reden, sie als seinen Bruder oder seine Schwester zu bezeichnen, bis man sich endgültig sicher ist, dass sie einen nie verlassen werden.
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my last client
Short StoryPrager Hauptbahnhof. Eine Junge Frau nimmt sich das Leben und stellt mein Mangeln an Berührungsangst ein weiteres Mal auf die Probe. Ich, Carolin (42) bin Bestatterin. Disclaimer: Gleissuizid, Bestattung, etc.