Von Kälte und Kummer III

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V sah sich weiter in dem Raum um. Ein riesiger Kleiderschrank belegte die eine Seite, Bücherregale die andere, aber auch dort platzten sie aus ihren Nähten und Bücher stapelten sich auf dem Boden.

Ejahl folgte ihrem Blick. »Das ist Leandras' Geschichte«, sagte er und ging zu einem der Regale.

»Leandras?«

»Der Elfenkönig«, erklärte Ejahl. »Er ist der Held unserer Zeit. Du hast noch nie von seinen Taten gehört?«

V zog den Kopf ein. »Ich weiß nur, dass er der Vater des Dunklen Königs ist.«

»Ich vergesse manchmal, dass du deine ersten Lebensjahre nicht hier verbracht hast. Seine Geschichte kennt jedes Kind und in den Adelshäusern müssen die Nachkommen lernen, das Epos fehlerfrei zu rezitieren.«

»Was?«, V blickte auf die Buchreihe, die in blaugefärbtes Leder eingeschlagen war. »Das sind doch mindestens ...«

»Vierundzwanzig Bücher«, sagte Ejahl, ehe sie nachzählen konnte. »Ein Epos, das in vierundzwanzig Büchern von den Heldentaten des Elfenkönigs berichtet. Wie er die Finsternis vertrieb und Monster besiegte, und es endet damit, dass er seine Frau fand und sein erstes Kind zur Welt kam.«

»Lloyd?« Es fühlte sich seltsam an, ihn beim Namen zu nennen.

»Nein, seine ältere Schwester. Cahlia hieß sie, wenn ich mich recht erinnere. Sie starb vor einigen Jahren durch ... die Raben.«

V kniff die Augen zusammen. »Durch Kematian?«

Für einen Moment schwieg Ejahl, dann meinte er: »Ja, durch Kematian. Ganz unbeschadet kam er aber nicht davon. Als der Elfenkönig von seinem Verbrechen erfuhr, verfluchte er ihn, doch durch die Besonderheiten seines ... Zustandes starb er nur langsam. Er hatte noch genug Zeit, um mir Ava anzuvertrauen, ehe er sich nach einem letzten Treffen mit mir auf den Weg gemacht hat, den Tod zu finden. Doch statt des Todes fand er offenbar eine Heilung, ansonsten wäre er wohl nicht mehr unter uns.«

Er räusperte sich und deutete wieder auf die Bücher über Leandras. »Aber ich schweife ab. Das Epos ist nicht dahingehend interessant, was in ihm geschieht. Heldentaten, Güte, Gnade, Sieg über das Böse – nichts, was man nicht schon oft gehört hat. Spannend ist aber, wie es berichtet wird. Es strotzt so sehr vor Ruhm und Tugend, dass es nur gelogen sein kann.«

V runzelte die Stirn. Es beschlich sie eine Ahnung, in welche Richtung dieses Gespräch verlief, aber sie lauschte weiter.

»Dann fragt man sich doch: Wie viel davon ist gelogen? Und wenn man den Gedanken ein wenig weiterspinnt: Wie viel aus unserer Geschichte ist gelogen? Ein Blick hinter die Fassade offenbart, was nicht in Buchstaben geschrieben stehen kann. An den Händen unserer Helden klebt das Blut Tausender, aber niemand fragt nach den Opfern, die von den Ruhmestaten gefordert werden, und niemand interessiert sich für diejenigen, die auf dem Weg der Rechtschaffenheit gefallen sind. Vielleicht wollten einige, die uns als die Bösen bekannt sind, nur Gutes und folgten dem Weg der Gerechtigkeit, bis sie auf unsere sogenannten Helden trafen. Doch wer möchte schon von der Barmherzigkeit des Feindes hören?«

»Es geht nicht länger um den Elfenkönig, oder?«, hakte V nach.

»Es ging nie um ihn.« Ejahl seufzte. »Frevel nennt man es bei dem einen, bei dem nächsten aber Heldentat. Und was die wenigsten dabei bedenken: Die Welt lässt sich nicht in Gut und Böse, in Schwarz und Weiß teilen.«

V presste die Lippen zusammen. Wehe, er wollte das Gespräch in die Richtung lenken, die sie vermutete.

»Der Erzähler reist durch die Welt und bringt Lloyds Geschichte unter die Menschen. Ich habe mir seine Version in ihrer Ganzheit nie angehört, aber ich weiß, welche Meinungen die Leute haben. Einige hassen Lloyd trotzdem – verdenken kann man es ihnen nicht. Andere zeigen Mitgefühl und ganz ganz wenige haben sogar Sympathie für ihn entwickelt.«

The Tale of Greed and VirtueWo Geschichten leben. Entdecke jetzt