Kälte. Überall nur Kälte. Sie hält Einzug über das Land, lässt die verbleibenden Pflanzen frieren, sterben. Der Boden ist rissig und gefroren, alles ist weiss und tot. Der Wind pfeift klirrend zwischen den Ruinen des Dorfes hindurch. Eiskristalle haben sich an den letzten verbleibenden Fenstern gebildet, überziehen die Splitter der einst schönen farbigen Bleiglasscheiben der Kirche. Die einst farbenprächtigen Kunstwerke sind nun zerstört. Wie ein mahnender Finger ragt die Turmspitze aus dem sonst zerstörten Rest des Gebäudes heraus. Der zerstörte Glockenturm zeigt drohend gen Himmel. Ein Zeitzeuge aus längst vergangenen Tagen. Der Rest der Kirche, das grosse Kirchenschiff, ist Opfer einer Flut von Frierenden geworden. Vor ein paar Wochen haben letzte Überlebende das Holz geplündert und auf der Stelle verbrannt um wenigstens etwas Wärme zu kriegen. Der Rest der Kirche ist dann zusammengestürzt, hat den Heiss-Kalt-Wechsel nicht mehr ausgehalten. Das uralte Bauwerk von 1488 steht nun nicht mehr, bietet nun keinen Zufluchtsort mehr. Ein weitere Erinnerung an gute Zeiten verblasst. Ein Wunder, dass der Kirchturm überlebt hat. Das Dach ist zwar teils eingestürzt, teils heruntergerissen, aber die Wände stehen noch. Die Glocken liegen achtlos heruntergezerrt am Boden. Grotesk ist der Anblick der neuen, zerstörten Glocken, die neben der uralten ersten Glocke liegen, die sich immer noch im Gestell neben der ehemaligen Kirche befindet. Aber ohne Licht erkennt man die Details sowieso nicht. Denn das Licht fehlt. Es fehlt schon seit Tagen, Wochen, Monaten. Und mit dem fehlenden Licht ist die Kälte gekommen. Zuerst nur schleichend, aber dann sind die Temperaturen rasch gefallen, weit unter den Gefrierpunkt. So ohne Sonne kann auch nichts überleben und die Pflanzen sterben eine nach der anderen. Das einst schön bepflanzte Haus oberhalb der Kirche ist leer, tot. Die einst blühenden Blumentöpfe an und auf den Balkonen, der einst riesige Garten mit den vielen Büschen und Bäumen sind nun karg und leer. Alles verdorrt, erfroren und tot. Das Haus selber steht noch erstaunlicherweise. Nur die Scheune hinten im Garten ist komplett abgerissen, den Plünderern zum Opfer gefallen. Auch die Holzbalkone am Haus sind weg, verbrannt um etwas Wärme zu spenden. Das Haus steht nackt da, trostlos. Nichts zeugt mehr davon, dass hier bis vor ein paar Monaten noch Leben gewesen ist. Lachen, Leben, Freude... Genau wie Kirche und Haus aussehen, sieht das gesamte Dorf aus. Verlassen, tot, zerstört. Der einstige Touristenhotspot ist ausgestorben. Die einstig von Menschenmassen überfluteten Strassen sind leer, die Touristenattraktionen verlassen und teilweise zerstört. Wie schnell sich doch alles verändert, wenn der Mensch weg ist.
Noch ein letztes Mal seufze ich, erinnere mich an die guten, alten Tage. Erinnere mich, wie ich im Garten gespielt habe, auf der Schaukel gelesen habe, mit meiner Familie Hochs und Tiefs erlebt habe und meine Kindheit hier genossen habe. Und auch später, im Erwachsenenalter, bin ich immer wieder gerne in meine eigentliche Heimat zurückgekehrt und habe alte Erinnerungen auf erleben lassen und Neue gewonnen. Doch diese Zeiten sind nun vorbei. Meine Familie ist tot, denke ich zumindest. Seit zwei Monaten habe ich kein Lebenszeichen mehr gehört oder gesehen, von keinem aus meiner Familie. Nur ich lebe noch, kämpfe mich durch. Aber wofür? Es gibt nichts mehr wofür es sich zu leben lohnt. Die Erde ist tot, die Menschen sind weg und die Kälte macht das Leben unmöglich auf diesem Planeten. Und trotzdem habe ich noch nicht aufgegeben. Ich suche weiter, suche nach Überlebenden, suche nach Nahrung, suche nach Schutz, tagtäglich. Ich gebe nicht auf, suche weiter. Meine Hoffnung stirbt zuletzt.
Langsam spüre ich die Kälte durch meine gefühlt tausenden Schichten von Kleidern hindurch. Sie greift mit eisigen Fingern nach mir, versucht mich zu verletzen. Mein Atem steigt in Wolken aus dem Knäuel aus Schals heraus. Kurz beobachte ich, wie sich mein Atem verflüchtigt und steige dann wieder ins Auto. Das Auto, meine Erinnerung an die gute, alte Zeit. Zum Glück habe ich genügend Decken um alles abzudichten. Im Motorraum habe ich Dämmmatte verwendet, um die wichtigen Teile vor der Kälte zu schützen. Sowieso lasse ich den Motor immer laufen, wenn ich meine Erkundungen mache. Er säuft zwar viel Diesel dadurch, aber die Tankstellen sind ja noch voll. Und da es beinahe keine Menschen mehr gibt, wird der Treibstoff auch nicht mehr gebraucht. Ich schlafe seit Monaten in meinem Auto, habe ja nichts mehr anderes. Wenigstens das bleibt mir. Mein Auto und die Erinnerung an die Zeit vor der Kälte und der Finsternis. Und die Erinnerung an ihn, an die Person, die ich schon seit Monaten suche. Eigentlich seit Beginn dieser ganzen Situation. Alle Orte, an denen ich ihn vermutet habe, habe ich bereits abgeklappert, mehrere Male. Aber nichts, kein Lebenszeichen. Langsam beginne ich zu verzweifeln. Aber ich darf nicht. Die Suche ist das Einzige, was mich noch am Leben hält. Wie oft habe ich schon versucht, dem Ganzen ein Ende zu setzen, bin kurz davor gewesen, einfach aufzugeben. Aber dann habe ich daran gedacht, wie traurig er sein wird, wenn ich einfach aufgebe. Und das hält mich am Leben.
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Kälte
Short StoryKälte liegt über dem Land, tötet Menschen, Tiere und Pflanzen. Die Umgebung ist trostlos, tot. Und in schrecklichen Umgebung lebt eine Frau, die sich von Tag zu Tag durchschlägt. Nur etwas treibt sie weiter: Hoffnung. Hoffnung auf Wärme, Liebe und e...