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Wincent

Ich telefonierte nur noch kurz mit meiner Familie, immerhin würden wir uns morgen ja eh sehen. Und ich wusste jetzt schon, dass Shayenne mich über Anna ausquetschen würde. Darauf konnte ich mich dann mental schon einmal einstellen.
Den restlichen Tag verbrachte ich auf der Couch und sah mir irgendwelche Filme auf Netflix an. Überwiegend Disney-Filme, denn darauf hatte ich einfach Lust. Zwischendurch holte ich dann meinen Laptop und bearbeitete nebenbei noch einige Mails. Doch drei Stunden später hielt ich es nicht mehr aus und schrieb Anna nochmal eine Nachricht.
Wie konnte ich einen Menschen so krass vermissen? Wir kannten uns noch gar nicht so lange, aber ich war hoffnungslos verloren ohne sie. Ich dachte, das gibt es gar nicht im echten Leben.
Die nächsten Stunden vergingen zäh wie Kaugummi, oberwohl ich mich ziemlich in Arbeit stürzte. Doch als die Mails langweiliger wurden, klappte ich den Laptop wieder zu. Ich sah auf die Uhr und beschloss, noch eine Folge auf Netflix zu schauen.
Keine Ahnung, worum es am Ende ging, aber als der Abspann kam, war ich ziemlich froh. Jetzt musste Anna Zuhause sein. Also wählte ich ihre Nummer und hoffte, dass sie ans Telefon ging.
„Ja?", meldete sie sich und allein ihre Stimme zu hören, ließ mich lächeln.
„Hey Maus."
„Wince." Anna schien sich sehr zu freuen, dass ich anrief und mein Puls stieg automatisch.
„Wie war die Fahrt?"
„Ganz gut. Meine Bodyguards waren sehr rücksichtsvoll und ziemlich unterhaltsam."
„Bodyguards?", hakte ich schmunzelnd nach.
„Na Mats und Fabi", erklärte sie mir.
„Achso. Klar. Wissen sie schon von ihren neuen Jobs?"
„Nein." Sie machte eine kurze Pause „Und bei dir?"
„Alles gut soweit."
„Was hast du so gemacht?"
„Ein bisschen Mails beantwortet und ansonsten Netflix und chill", antwortete ich ehrlich.
„Klingt gut."
„Ja. War ganz okay. Aber du hast gefehlt", gab ich zu.
Ich wusste, dass ich es uns dadurch nicht leichter machte, aber andererseits sollte sie wissen, wie es mir ging. Und es war vollkommen okay, dass ich sie vermisste.
„Hast du jetzt niemanden mehr zum Kuscheln?"
„Nein. Du bist ja nicht da und Fritz auch nicht."
„Ich schick dir bei Gelegenheit einen großen Teddy als Ersatz", erwiderte Anna und ich sah ihr Grinsen bildlich vor mir.
„Ich freu mich jetzt schon drauf", sagte ich. „Aber jetzt ehrlich. Ich freu mich jetzt schon auf den Moment, wenn du wieder in meinen Armen liegen kannst."
„Ich auch." Der scherzhafte Unterton war nun verschwunden. „Ehrlicherweise weiß ich gar nicht mehr, wie ich alleine bin."
„Du hast doch Fritz", widersprach ich. „Und ich weiß, dass du das schaffst. Hast du doch schon immer irgendwie."
„Mhm."
„Anna, du bist so eine starke, junge Frau. Du schaffst das. Außerdem kannst du dich immer melden, wenn etwas ist."
„Ich weiß. Und ich bin dir dafür mehr als dankbar."
„Willst du ein wenig von der Zugfahrt erzählen?", fragte ich, um das Thema zu wechseln.
„Willst du das wirklich wissen?"
„Ja."
„Okay." Sie dachte kurz nach und berichtete dann die lustigsten Episoden von ihrer Heimfahrt.
Ich musste mich auf jeden Fall noch bei Mats und Fabi irgendwie bedanken.
Ich unterhielt mich mit Anna noch eine ganze Weile über alles, was uns so einfiel. Wir ließen die letzte Woche noch einmal Revue passieren, sie erzählte ein wenig von Erlebnissen mit ihrem Vater und ich von welchen mit meiner Mutter und Schwester. Irgendwann diskutierten wir dann tatsächlich über Disney-Charaktere. Ich beschrieb immer, wie die Figuren aussahen und Anna imitierte dann einige Stimmen. Es war kein so wirklich sinnvolles Telefonat, aber es tat uns beiden gut. Deeptalk war zwar wichtig in einer Beziehung, aber gemeinsames Lachen ebenso.

Annalena

Als ich wieder wach wurde, herrschte Stille. Also soweit man davon in Berlin reden konnte. Ich drehte meinen Kopf und spürte etwas Kaltes an meiner Wange. Mein Handy. Wincent.
Ich musste wohl eingeschlafen sein, während wir telefoniert hatten. Hatte er dann aufgelegt?  Ich schaltete mein Telefon an, aber es kam keine Reaktion. Akku leer. Mist.
So stand ich auf und kramte aus meinen noch nicht ausgepackten Sachen das Ladegerät heraus. Als das Handy am Strom hing, dachte ich nach, was ich nun tun konnte. Ich hatte keine Ahnung, wie spät oder früh es war. Hunger hatte ich noch nicht, genau wie gestern Abend, weshalb ich mich einfach wieder ins Bett legte. Doch auch dort fiel mir direkt auf, dass etwas fehlte. Ich rief nach Fritz und er sprang zu mir hoch. Mit seiner Wärme neben mir, fühlte ich mich ein bisschen weniger einsam und schloss noch einmal die Augen.
Das Klingeln meines Handys weckte mich. Es war bereits 10 Uhr und Wincent hatte mir eine Nachricht geschickt.
„Guten Morgen. Ich hoffe, du hast besser geschlafen, als ich. Irgendwie bin ich wohl auf dem Sofa eingeschlafen und das ist nicht so super bequem." Er lachte kurz. „Aber egal. Ich wünsche dir auf jeden Fall ein schönes Wochenende. Knuddel Fritz von mir und fühl dich ganz doll gedrückt. Ich liebe dich."
„Guten Morgen. Ich hab ganz okay geschlafen. Allerdings fehlte mein Teddy. Ich bin gestern auch eingeschlafen, aber im Gegensatz zu dir, war ich schon im Bett. Ich wünsche dir auch ein schönes Wochenende. Lass bitte deine Küche ganz, okay? Ich würde dich gerade so gerne in den Arm nehmen und nie wieder loslassen. Ich liebe dich. Kuss."
Fritz stupste mich in die Seite und ich verstand die Aufforderung direkt. Ich stand auf und machte mich für den Tag fertig. Mein Hund folgte mir wieder, als wäre er mein Schatten. Also wenn Wincent nicht da war, klappte das. Der hatte Fritz also doch verhext.
Fertig angezogen, schlüpfte ich in Schuhe und Jacke, was mein Hund mit einem fröhlichen Bellen kommentierte. Mit Handy und Schlüssel in der Tasche, verließ ich mit Fritz die Wohnung. Wir liefen die Strecke, die Wincent uns gezeigt hatte. Und wieder dachte ich an ihn. Wie schaffte er das nur?
Wieder zurück in meiner Wohnung, gab ich Fritz sein lang ersehntes Frühstück. Obwohl wir sommerlich warme Temperaturen hatten, begann ich ein wenig zu frieren. Daher kramte ich meine Kuscheldecke heraus, hüllte mich hinein und machte es mir auf der Couch bequem. Fritz legte sich auf meine Füße und wärmte sie dadurch noch ein wenig.
„Wollen wir uns ein Hörspiel anmachen?", fragte ich ihn, obwohl er eh nicht antwortete.
„Okay. Worauf hast du Lust? Krimi? Lovestory? Oder warte, hier. Ich glaube, ich hab die perfekte Idee."
Keine zwei Minuten später erklang eine Stimme, die die mir bekannten Worte vorlas.
„E-Mail, abgeschickt in Dakar, Senegal, Westafrika..."
Ich hörte, wie Fritz mit dem Schwanz wedelte und wusste, dass er ebenso gerne ‚Die Schule der magischen Tiere - Voller Löcher' hörte, wie ich. Dabei kannte ich inzwischen jede Zeile in-und auswendig. Doch dieses Hörbuch hatte es mir einfach angetan, obwohl ich mit meinen 27 Jahren definitiv nicht mehr ganz Zielgruppe war.
Gerade als das letzte Kapitel begann, inzwischen war es Mittag geworden, wurde das Hörbuch unterbrochen und stattdessen schallte Wincents Stimme durch den Raum. Fritz sprang auf und lief durch das Wohnzimmer. Vermutlich dachte er, dass sein Freund hier war, aber da musste ich ihn enttäuschen.
„Fritz, leise", befahl ich ihm also und nahm den eingehenden Anruf entgegen.

Bin ich für sie blind? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt