~Elucya
Seine Arme schlossen sich von hinten um meine Taille und drückten mich rückwärts gegen seine Brust. Als ich erschrocken einen Schritt nach hinten taumelte, hielten seine warmen, starken Arme mich fest und pressten mich noch dichter an ihn.
,,Hallo, Du", flüsterte er dicht neben meinem Ohr.
Seine Stimme war rau und heiser, aber seine Worte hätten wohl kaum zärtlicher sein können.
,,Du hast mich erschreckt“ stieß ich atemlos hervor. Mein Atem ging schnell und ich blies eine silbrig-weiße Wolke nach der anderen in die eisig kalte Luft vor mir.
Seine Hände verließen bereits wieder meine Hüften, wanderten meine Arme hinauf, bis zu meinen Schultern, und drehten mich zu ihm um, sodass meine Nase beinahe gegen sein Schlüsselbein stieß und sein Kinn meine Stirn streifte.
Ich war zwar klein, aber Liounem dafür auch ein wahrhafter Riese. Ich hegte immer noch große Hoffnungen, wenigstens noch ein kleines Stück zu wachsen, was aber wohl nie passieren würde.
,,Warum kommst Du erst so spät?" fragte ich leise und schmiegte meine, vor Kälte zitternden, Hände an seinen warmen Oberkörper.
Statt einer Antwort bekam ich jedoch nur ein gehauchtes ,,Ich liebe dich“ und einen sanften Kuss auf den Scheitel. Zwar ärgerte es mich, dass ich keine Antwort bekommen hatte, aber bei diesen Worten stieg eine mollige Wärme in mir auf und kroch durch meinen gesamten Körper, sodass mein Ärger sofort wieder verflog.
Es war unheimlich kalt an diesem Abend. So kalt, dass ich unter Liounems Arm hindurch beobachten konnte, wie der Frost die Baumstämme hinaufkroch und silbern glänzende Muster auf die Rinde zauberte.
Die Sonne war gerade untergegangen. Über den Bergen waren noch rosane Schleier zu erkennen, die sich langsam tiefrot färbten und schließlich verblassten. Hinter uns stand bereits der Mond am sternenübersähten Himmel, welcher in einem warmen Goldton erstrahlte und einen glänzenden Schein auf die vor Kälte erstarrten Baumwipfel warf.
Ich blickte zu Liounem auf und erlaubte seinen Händen noch ein Stück weiter nach oben zu wandern, bis sie meine Wangen umschmiegten und sein Daumen zärtlich über die Stelle unter meinem Auge strich, wo sich beinahe alle meiner Sommersprossen tummelten.
Sein Gesicht war vor Kälte erblasst, die Lippen violett, doch seine tiefblauen Augen funkelten. Den abgetragenen Leinenmantel trug er offen, sodass ich meine Arme direkt um sein verwaschenes, graues Hemd schlingen konnte.
,,Du bist so schön warm“ hauchte ich wohlwollend.
Seine Körperwärme war das reinste Paradies. Über eine Stunde hatte ich zuvor zwischen den frierenden Baumstämmen in der Kälte gesessen, auf meine Hände gehaucht und darauf gewartet, dass Liounem endlich zwischen den Tannen auftauchte.
Noch ein bisschen dichter schmiegte ich meine Wange an seine Brust und lauschte der beruhigenden Melodie seines Herzschlags.
,,Wollen wir dann,“ er strich mir das wirre Haar aus dem Gesicht, ,,runter ins Dorf ?"
Aus dem tief hängenden Nebel konnte man schwache Rauchschwaden aufsteigen sehen, die zweifellos aus den zahlreichen Kaminen der Siedlung entschwebt waren. Der beißende Wind verwehte die grauen Dämpfe jedoch schnell, sodass sie schon bald nicht mehr über dem Dorf schwebten, sondern sich auf die eisbedeckten Gipfel des Montnivis zubewegeten.
Mir entfuhr ein leiser Seufzer. ,,Nagut.“
Noch ein letztes mal sog ich Liounems ganz eigenen Geruch nach Harz und Regen tief in mich ein und löste mich schließlich widerwillig von ihm. Ich schnürte meinen Mantel wieder zu. Liounem hielt das anscheinend für unnötig, obwohl es so kalt war, dass sein Atem als bauschige, weiße Wolke über seinen Kopf hinwegschwebte. Aber ihm war nie kalt. Er war die Kälte gewöhnt.
Unsere Hände fanden einander und wir stapften durch den dichten Wald in Richtung des Tals, wo schwache Lichter einladende Wärme und Geborgenheit versprachen. Die Siedlung lag tief unten, eingebettet in ein, von hohen Bergen umgebenem, Tal. In den Gipfeln entsprangen zahlreiche Quellen, die als klare Bergbäche ins Tal hinunter strömten. Die hohen Berge hielten die Regenwolken meistens ab, aber im Osten waren die Berge etwas tiefer, sodass der Regen dennoch ins Tal gelangen konnte. Durch den Regen entstand Nebel, dieser konnte, wegen der hohen Berge, nicht aus dem Tal entweichen. Daher hingen die meiste Zeit dicke Nebelschwaden über den Dächern der Siedlung.Erst als wir davor standen, bemerkte ich, dass die riesigen Flügeltüren in der eisernen Hecke bereits verschlossen waren. Ich sah das blasse, bläuliche flimmern des Stroms in der Dunkelheit, der die Stränge wie ein leuchtender Mantel umschloss und uns den Eingang verwehrte. Eigentlich war die Hecke da, um uns in der Siedlung vor den "Gefahren der Nacht" zu schützen, wie die Regierung es nannte, und nicht um uns aus unserem eigenen Zuhause auszuschließen.
Ich blickte mich fragend zu Liounem um.
,,Mein Vater hat einen Schlüssel, aber ich hatte gehofft, wir kommen noch an, bevor er die Tore schließt“ sagte er mit zerknirschter Miene und rieb sich den Nacken.
Mit "er" war der Torwächter gemeint. Der vermutlich meistverdienenste Mann in Toran, unserem Dorf.
Ich seufzte. ,,Und wo ist dein Vater ?“
Meine Worte klangen ungewollt genervt. Mir war kalt, ich war müde und kaputt. Ich wollte einfach nur nach Hause in mein Bett. Am liebsten mit Liounem neben mir unter der Bettdecke.
,,Der ist noch oben“, er deutete auf den Berg, wo wir herkamen, ,,aber er müsste bald kommen.“
Liounem sah sich suchend um, ließ sich ein paar Meter von der Hecke entfernt auf einem vereisten Baumstumpf nieder und bedeutete mir stumm auf seinen Schoß zu kommen. Ich huschte zu ihm hinüber und setzte mich seitlich auf seine Oberschenkel. Er legte seine Arme, samt seines Mantels, um meinen Oberkörper und schloss seine Hände um meine linke Schulter. An seine Brust gelehnt, den Kopf in der Mulde zwischen seinem Hals und seiner Schulter hüllte er mich in einen molligen Ball aus Wärme, seinem ganz eigenen, herrlichen Geruch und Geborgenheit ein.
,,Jetzt bekommst Du auch schon bald deine Flügel“, flüsterte Liounem, die Lippen direkt über meinem Ohr. Seine Gesicht hatte wieder einen halbwegs normalen Farbton angenommen und auch aus meinen Gliedern verschwand allmählich die Kälte und Taubheit.
,,Bei mir kann es auch noch fast ein Jahr dauern“, erwiderte ich leise und sah ihm in die Augen.
,,Ich dachte immer ich bekomme vor dir meine Flügel, aber vielleicht holst Du mich ja doch noch ein“, redete er weiter, ohne auf meine Antwort einzugehen, ,,Ich meine, dein Geburtstag ist schon übermorgen!“ Endlich erwiderte er meinen Blick und ein Lächeln erhellte sein Gesicht.
Aber er hatte Recht. Wenn ich 16 war, konnten meine Flügel jederzeit zu wachsen beginnen. Liounem war zwar schon über drei Monate lang 16, aber er, oder viel mehr seine Flügel, hatten auch noch bis einen Monat vor seinem 17. Geburtstag Zeit. Ich könnte meine Flügel also tatsächlich noch vor ihm bekommen.
,,Dann sind wir endlich frei !“ Sein Blick schweifte in die Ferne.
,,Glaubst Du wirklich wir werden jemals frei sein ?“ Ich hatte da so meine Zweifel. Wir würden zwar fliegen können, aber die Regierung war ziemlich streng, was unsere Freiheit anging. Die Grenzen zwischen den Ringen waren streng getrennt und die Siedlung durfte nur zur Arbeit oder zu speziellen, zugelassenen Veranstaltungen verlassen werden. Es war zwar schwer zu kontrollieren, was wir außerhalb der Siedlung machten, vor allem hier im achten Ring. Man konnte ja schlecht im Wald Überwachungskameras anbringen und in den Lehmfeldern erst recht nicht. Aber um 8 Uhr abends wurden die Tore der Siedlung geschlossen, um 6 Uhr morgens wieder geöffnet. Außerhalb dieser Zeiten konnte man nur mit einer speziellen Genehmigung und dem dazugehörigen Schlüssel aus und wieder in unsere kleine Stadt gelangen.
Seine Miene verfinsterte sich. ,,Nein“, brummte er, ,,aber ich glaube ich werde mich dann irgendwie freier fühlen.“ Er vergrub seine Nase in meinem Haar. ,,Vielleicht ändert das neue Königspaar ja etwas daran.“ Ein Schimmer von Hoffnung lag in seiner Stimme.
,,Vielleicht“, antwortete ich vorsichtig, um seine Hoffnungen nicht gänzlich zu zerstören. Ich glaubte nicht daran. In über 1000 Jahren hatte sich das System nicht geändert, also würde es das so schnell auch nicht tun.
,,Was denkst du aus welchen Ringen sie kommen werden?“ Liounem sah mich herausfordernd an.
,,Die neuen Könige?“
Er nickte. ,,Wir wetten“, beschloss er. ,,Ich sage“, er schien kurz nachzudenken, ,,das Mädchen aus dem 2. und der Junge aus 6.“
,,Also Fabrikarbeiter trifft auf verwöhnte Adlige?!“, lachte ich.
Aber eigentlich war daran nichts lustiges. Unser Königreich war in 8 Ringe unterteilt. Wie eine Zielscheibe beim Bogenschießen. In der Mitte befand sich der 1. Der Palast. Darum herum der 2. und so weiter. Im Grunde galt: umso höher die Zahl, umso ärmer die Leute und natürlich auch umso mehr Alares, wie wir uns nennen. Eine Ausnahme bildete vielleicht der 6. Ring, Cornubis. Dort befanden sich die Fabriken unseres Landes und somit auch die unterste Arbeitsschicht. Trotzdem bildeten wir im 8. Ring, Nebulares, in der Gesellschaft die niedrigste Schicht.
Liounem zuckte mit den Schultern. ,,So ungefähr.“ Ein schiefes Lächeln umspielte seine Lippen. ,,Und was denkst du?“
Im Grunde war es egal worauf ich tippte. Die Chancen standen für alle Ringe gleich. Nur dass beide aus dem selben Ring stammten war noch nie vorgekommen. ,,Der Junge aus dem 4. und das Mädchen aus dem 7. Ring“, entschied ich mich schließlich.
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Papilio
RandomTrotz der Armut und Ungerechtigkeit führen Elucya und Liounem ein glückliches Leben im achten und zugleich letzten Ring des Königreichs Altanys. Ihre Flügel stehen ihnen kurz bevor und damit auch endlich die Vollmacht über ihr eigenes Leben. Doch da...