Türchen 1

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HARPER

»Heute Abend ist Weihnachtsfeier, Evans. Da nehm' ich mir dich vor«, rief Connor O'Sullivan mir im Vorbeigehen in Richtung meines Schreibtisches zu und lachte dreckig. Sein Kollege stimmte mit ein und sie gaben sich ein High Five.
   Genervt strich ich mir eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. Noch so eine Anmache und ich sollte kündigen. Eine Debatte zum Thema Feminismus würde mir in einem von Männern dominierten Unternehmen wie diesem jedoch nicht helfen. Leider hatte ich mich schon zu weit hochgearbeitet, um jetzt alles aufzugeben. Seit vier Jahren machte ich jede Woche Überstunden, arbeitete schneller, fleißiger und gründlicher als jeder männliche Kollege. Denn unser Chef und mein direkter Vorgesetzter Mr. Geller gab jedes Jahr genau eine saftige Gehaltserhöhung heraus und schickte den oder die besten Mitarbeitenden in einen verdienten hoch exklusiven Wellnessurlaub. Wer auch immer gewann, bekam kurz vor Weihnachten einen roten Umschlag zugesandt. Und dieses Jahr war ich dran. Zumindest hatte ich das im Gefühl. Und ich würde vor Genugtuung strotzen, während ich mir die Füße massieren ließ, mich in meinen Lorbeeren suhlte und an Connors enttäuschte Visage dachte.
   »Ignorier sie einfach«, beschwichtigte mich Olivia, die mit einer Pobacke auf meinem Schreibtisch saß. Genau wie ich, war sie als Assistentin der Geschäftsleitung tätig. Sie legte mir eine Hand auf die Schulter. »Ich bin mir sicher die beiden kriegen so schon keinen hoch. Ein Bier und da läuft erst rechts nichts mehr.«
   Ich schmunzelte. Große Klappe und nichts dahinter. Wieso begegneten immer mir die Macho-Idioten? »Wo sind nur die Märchenprinzen, die uns Disney versprochen hat, als wir klein waren?«, warf ich in den Raum.
   »Sie sind und bleiben eben ein Märchen«, antwortete Olivia, warf sich das braune Haar über die Schulter und eilte zu ihrem mir gegenüber liegenden Schreibtisch zurück, um ein eingehendes Telefonat anzunehmen. Sie war die Gewinnerin der Gehaltserhöhung des letzten Jahres und mindestens genauso arbeitswütig wie ich. Ich wandte mich wieder meinen E-Mails zu und öffnete die Nachricht von Mister Geller, die ganz oben in meinem Posteingang erschien. 

Bitte verlängern sie meinen Aufenthalt im Hotel für eine weitere Woche und sagen sie meine Termine ab.
Besten Dank, Edward Geller

Ich sandte ihm schnell eine zustimmende Antwort, öffnete den Kalender und erteilte den Terminen mit wenigen Mausklicks eine Absage, bevor ich zum Hörer griff und mich in seinem Namen bei den wichtigsten Persönlichkeiten entschuldigte. Seltsam, dass Mr. Geller ganze zwei Wochen in diesem Hotel verbrachte und damit auch die Weihnachtsfeier verpasste. Vielleicht hatte er bei der Tagung einen Geschäftspartner getroffen oder er hatte sich entschieden, spontan dort Urlaub zu machen. Ob er eine Affäre hatte? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Er war zwar streng, aber seine Frau liebte er über alles. Sie waren seit 40 Jahren verheiratet. Jede Woche blockte er sich einen Zeitraum, der nur ihr galt. Außerdem gab ich regelmäßig Blumenlieferungen an seine Privatadresse in Auftrag.
   Olivia riss mich aus den Gedanken, als sie auflegte und mich mit großen Augen über ihren Bildschirmrand anblickte. »Die Fotografin hat gerade abgesagt. Sie ist krank.« Shit! So kurzfristig würden wir keinen Ersatz finden. »Kannst du einspringen?«
   »Was? Ich? Aber ...« Ich kümmerte mich zwar manchmal um die Fotos der firmeneigenen Social Media Kanäle, aber darüber hinaus, war das für mich Neuland.
   »Ja, du hast ein Talent für sowas. Ich würde es auch machen, aber ich kümmere mich schon um das Gewinnspiel und die Spendenaktion.«
Ich und Fotografin? Na gut. »Okay, ja, dann übernehm' ich das.«
   »Klasse! Nimm einfach dein Handy dafür. Ich sende eine Infomail raus.«
Ich sah auf mein Smartphone. Irgendwann würde sich mein Engagement auszahlen. In ein paar Tagen, kurz vor Weihnachten, würde ich mit Olivia meinen Gewinn in irgendeiner New Yorker Bar begießen und feiern. Das war mein Weihnachtswunsch für dieses Jahr.
   »Wie läuft es eigentlich mit der Wohnungssuche? Hast du schon was gefunden?«
Ich schüttelte den Kopf. »Bisher nicht. Zumindest keine Wohngegend, die ich mir leisten könnte und die nicht genauso Gefahr läuft Einzugsgebiet eines Spanners zu sein.«
   Olivia grinste. »Du solltest vielleicht aufhören diese furchtbar angsteinflößenden Krimis zu schauen.«
   »Niemals!« Ich grinste zurück. Denn das war das einzige abendliche Ritual, das mich davon abhielt dauerhaft an die Arbeit zu denken. »Vielleicht taucht dieser Spanner ja immer wieder auf, weil er die Psychothriller genauso spannend findet, wie ich. Vielleicht will er wissen, wie es ausgeht.«
   Sie schmunzelte, wurde dann aber wieder ernst. »Zumindest kannst du noch darüber lachen. Aber wenn du dich das nächste Mal beobachtet fühlst oder es irgendwie unheimlich wird, ruf sofort die Polizei, hörst du?«
   »Mach ich.« Aber da das erst ein paar Mal der Fall gewesen war und ich mir häufig nicht sicher war, ob ich es mir nur einbildete, würde ich erst mal in Ruhe weiterschauen. Ich mochte meine Wohnung und suchte mir nur ungern etwas Neues. Außer ich bekam die Gehaltserhöhung. In diesem Fall konnte ich mir etwas viel Schickeres leisten und wäre schneller weg, als Olivia »Ruf die Polizei« sagen konnte.

Merry dark Christmas, my Love!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt